Außenpolitik ist ein schwieriges und für viele suspektes Terrain. Das rührt einerseits daher, dass sie zu einem großen Teil hinter verschlossenen Türen stattfindet und sich der medialen Analyse und öffentlichen Kontrolle entzieht, aber auch am Fehlen eines einfachen Analysemusters der Entscheidungen und Handlungen, wie sie in der Innenpolitik existieren. In diesem Beitrag möchte ich ein solches Grundmuster vorschlagen und dann auf drei wichtige Abweichungen von diesem Muster eingehen, die einen großen Teil der außenpolitischen Handlungen abdecken.
Das Grundmotiv: Akteure – Ziele – Handlungen
Zunächst möche ich zunächst das grundlegende Paradigma zur Beschreibung und Analyse außenpolitischer Beziehungen1 vorstellen, das zwar nicht besonders innovativ ist, aber als Gerüst für die Analyse und diplomatische Praxis ausreicht das die drei fundamentalen Fragen beanwortet: Wer handelt, weshalb und wie?
Akteure
Internationale Akteure sind über territoriale Grenzen hinweg tätige Entitäten, die über eine gewisse Autonomie verfügen. Neben Staaten und internationalen Organisationen2 zählen unter vielen anderen auch Konzerne, kriminelle Organisationen, Kirchen, Nichtregierungsorganisationen, politische Bewegungen, Kultur- und Forschungsnetzwerke dazu. Alle beteiligen sich an grenzüberschreitenden Handlungen und Diskursen und wirken über staatliche Grenzen hinaus.
Staaten bleiben aufgrund ihres einzigartigen territorialen Quasi-Gewaltmonpols weiterhin die wichtigsten internationalen Akteure und ich werde mich auch überwiegend auf sie konzentrieren. Grundsätzlich ist die Typisierung aber auf alle Akteure anwendbar.
Ziele
Der traditionelle Streit über die „wirkliche“, ontologische Erklärung internationaler Zusammenhänge – zwischen Anhängern der Realpolitik („Realismus“ als Kampf um Macht und Überleben) und Wertepolitik („Idealismus“ als Zusammenarbeit entlang gemeinsamer Werte) – ist längst steril und sinnlos.
Es ist offensichtlich, dass – genau wie bei Individuen – nicht ein, sondern eine Vielzahl von nicht aufeinander reduzierbaren Elementen die Entscheidungsprozesse internationaler Akteure maßgeblich beeinflussen: Interessen, Werte, Denkmuster, interne Strukturen, Wissen(slücken), aber auch Empfindungen.3
Diese Elemente können als Hintergrundfaktoren bezeichnet werden. Sie führen, im Kontext der gegenwärtigen Umgebung des Akteurs, zum Wunsch nach einem gewissen Sachverhalt: „Wir wollen S“.4 Solche Wünsche nennen wir Ziele, Absichten, oder Handlungsmotive. Sie sind auf vielfältige Art und Weise rationalisierbar – „Wir wollen S weil X,Y,Z“ –, was jedoch nicht bedeutet, dass die Konstituierung der Absicht tatsächlich auf eine rationale Begründung zurückgeht.5 Bei der Untersuchung internationaler Beziehungen sind derartige Rationalisierungen nicht primär von Bedeutung, sondern vielmehr das Ziel selbst.6
Handlungen
Die Handlungen der internationalen Akteure folgen nun aus den Zielen: „Wir wollen S, deshalb machen wir H“. Dabei wird (im Gegensatz zur nachträglichen Rationalisierung der Absichten) in erster Näherung rational vorgegangen, das heißt Handlungsoptionen werden daraufhin untersucht, ob sie geeignet sind, um S zu erreichen.7
Bei dieser Untersuchung, die H als die den Umständen entsprechend geeignetste Vorgangsweise auszeichnet, fließen wieder jene Hintergrundfaktoren (die Wissenslage und Prognosen) des Akteurs ein. Deshalb ist auch dieser Prozess, obowhl er rational ist, gleichwohl subjektiv.
Das Grundmodell für die Analyse außenpolitischer Zusammenhänge folgt folgendem Paradigma: (1) Identifikation der relevanten Akteure (Staaten, internationale Organisationen oder deren Organe, Konzerne, usw.); (2) Beschreibung – nicht notwendigerweise Erklärung – ihrer Ziele; (3) Identifikation und Erklärung der rational gesetzten Handlungen als Mittel zur Umsetzung der Absichten.
Erste Variation: ziellose Handlungen
In der Realität wird von der einfachen kausalen Kette Akteur – Ziele – Handlungen vielfach abgewichen. Die wohl häufigste Variation besteht darin, die Handlungsoptionen ohne explizite Ziele zu formulieren und direkt zu bewerten. Anstatt zu fragen: „Was wollen wir und wie kann es erreicht werden?“ wird gefragt „Was kann getan werden?“.
Die folgende Abwägung ist dann üblicherweise nicht zielorientiert sondern regel- beziehungsweise gewohnheitsbasiert, zum Beispiel: „Das hat letztes Mal gut funktioniert.“ oder: „Etwas ähnliches hat bei XY nicht funktioniert.“ Dieses Verhalten ist sinnvoll, wenn es um sich wiederkehrende Situationen handelt, in denen rasch entschieden und gehandelt werden muss und wo die Handlungsoptionen teilweise vorgegeben sind, wie etwa bei Abstimmungen in internationalen Organisationen. Der Nachteil ist natürlich, dass Handlungsoptionen und Änderungen der Rahmenbedingungen übersehen werden können, wenn die eigenen Ziele nicht mehr formuliert werden.
Ein Großteil der außenpolitischen Entscheidungen, gerade die kurzfristigen, „taktischen“, beruhen auf einer gewohnheitsmäßigen Beurteilung bereits bekannter Handlungsoptionen. Die Ziele der Handlungen stehen nicht im Vordergrund und werden oftmals nicht einmal formuliert.
Zweite Variation: Ersatzhandlungen
Die zweite Abweichung des oben skizzierten Grundmodells geht in die entgegengesetzte Richtung – der Akteur arbeitet Ziele zwar aus, sucht aber anschließend nicht nach den besten Handlungsoptionen, sondern bleibt bei der Bewertung von bestehenden oder potentiellen Sachverhalten – „Wir wollen X“ oder „Y darf nicht passieren“.
Als Ersatzhandlung tritt oftmals die bloße Äußerung beziehungsweise Erklärung der eigenen Einschätzung, über Interviews, Presseaussendungen usw. in Erscheinung. Streng genommen gibt es also durchaus Handlungen,8 aber nicht solche, die sich rational aus den Absichten ergeben.
Diese Variante hat ebenfalls den Vorteil, dass sie rasch umgesetzt werden kann, gerade in den Fällen, in denen eine bloße Äußerung ohnehin das geeignetste Mittel ist. Im Gegenzug wird die fehlende Abwägung weiterer Handlungsoptionen oft zum Nachteil des Akteurs gereichen.
In vielen Fällen versucht der Akteur gar nicht erst, die Handlungsoptionen im Hinblick auf die Ziele abzuwägen und beschränkt sich stattdessen auf eine deklamatorische Ersatzhandlung, die in der bloßen Äußerung (und eventuell Erklärung) vermeintlicher Ziele besteht.
Dritte Variation: zersplitterte Rationalität
Die dritte und letzte Variante des Grundmusters tritt dann auf, wenn der außenpolitische Akteur sich nicht erfolgreich als solcher konstituiert, also keine kohärenten Ziele oder Handlungen verfolgt. Dies kann durchaus auch bein einem grundsätzlich institutionell und historisch gefestigten internationalen Akteur, wie einem stabilen Staat, geschehen.
Das wohl offensichtlichste Beispiel dafür ist die parallele Außenpolitik unterschiedlicher Ministerien oder regionaler Regierungsebenen,9 die sich u.a. aufgrund unterschiedlicher politischen Ausrichtungen und Interessen ergibt und zu inkonsistenter Zielsetzung und Handlungen führt, weil es keine vermittelnde Oberinstanz gibt10 oder diese nicht funktioniert. Je nach Betrachtung ist der Staat in diesen Bereichen dann ein offen inkonsistenter, irrationaler Akteur oder überhaupt kein Akteur mehr.
Weniger bekannt aber noch verbreiteter ist die unbeabsichtigte Zersetzung des Akteurs, die nicht durch offene Machtkämpfe entsteht, sondern durch dezentrale Abwägungs- und Entscheidungsmechanismen innerhalb von Institutionen. Gerade auf der „Arbeitsebene“, also im täglichen Geschäft der unteren Organisationsebenen, werden tagtäglich unzählige „Mikroentscheidungen“ getroffen, zwar im Wissen um die grundsätzliche übergeordnete Zielsetzung, doch lokal durchaus unterschiedlich ausgelegt.11 Etwas vereinfacht: jede Botschaft, jede Abteilung legt Außenpolitik in ihrem eigenen Kontext aus, was zu Inkonsistenzen im Auftreten des Staats führen kann.
Entstehen innerhalb eines internationalen Akteurs divergierende Zielsetzungen oder Umsetzungen der Ziele, kann dieser unter Umständen nicht mehr als rationaler Akteur betrachtet werden. Dieses Phänomen tritt auf der Arbeitsebene auch unwillkürlich, ohne institutionellen Kompetenzstreit oder Machtkampf auf.
- Grundsätzlich eignet es sich für jede Form individueller und sozialer Interaktion. Die Abweichungen davon werden außenpolitische Spezifizitäten aufweisen. ↩︎
- Zahlreiche internationale Organisationen bestehen eigentlich aus mehreren Akteuren. Wenn die Hierarchien und Entscheidungsmechanismen unabhängig sind, wie etwa zwischen der Europäischen Kommission und dem Rat oder der Generalversammlung und dem Sekretariat der Vereinten Nationen, ist es sinnvoll, diese Organe als eigenständige Akteure zu betrachten. ↩︎
- Auf welche Weise Gruppen überhaupt entscheiden können („group agency“) ist eine weitreichende philosophische Frage, die u.a. an der Universität Wien erforscht wird. Ich gehe darauf nicht ein und nehme nur an, dass es solche Entscheidungen gibt und sie grundsätzlich in Analogie zu individuellen Entscheidungen verstanden werden können. In gewissen Fällen bricht diese Analogie zusammen, wie sich weiter unten zeigen wird. ↩︎
- Genauer werden verschiedene vorstellbare Sachverhalte nach Präferenz gereiht: S > S' > S'' usw. ↩︎
- Die Standardbeschreibung individueller Ziele bei Hume geht überhaupt davon aus, dass es immer einen Gefühlsanteil für Motivation braucht. ↩︎
- An die Stelle der Erklärung der Absichten sollte deshalb die – ohnehin schon schwierige – sorgfältige Beschreibung der Handlungsmotive treten. Der Drang, sämtliche Motive erklären zu wollen, verhält sich umgekehrt proportional zum Vermögen, diese überhaupt sinnvoll zu beschreiben. Gerade unter Kolumnisten ist die schlechte Angewohnheit weit verbreitet, von China über Russland bis zum Nahen Osten ein- und dieselben Erklärungsmuster – üblicherwiese die eigenen – zu spannen, ohne die Absichten überhaupt zu charakterisieren. ↩︎
- Hochtrabender formuliert: sie gehorchen dem hypothetischen Imperativ der praktischen Rationalität Kants. ↩︎
- In einem gewissen Sinn kann alles – auch das Nichthandeln – als eine Art Handlung aufgefasst werden. ↩︎
- Zu einem gewissen Grad können auch Parlamente außenpolitisch aktiv werden, was besonders in Präsidialsystemen wie den Vereinigten Staaten relevant ist. ↩︎
- In Österreich sind etwa alle Minister prinzipiell gleichberechtigt und nicht weisungsgebunden, können also auf europapolitischer Ebene durchaus konträre Ziele verfolgen. ↩︎
- Es gibt damit also eine lokale Rationalität, die sich jedoch unter Umständen nicht mehr zu einer Rationalität des übergeordneten Akteurs zusammenfügt. Zum Beispiel wird jede Botschaft tendenziell versuchen, durch ihre Handlungen die Beziehungen zum Gaststaat zu verbessern, ohne sich notwendigerweise um die gesamte Außenpolitik zu sorgen. Ein zentraler, hierarchischer Weisungsmechanismus kann diese Tendenz korrigieren. ↩︎