Das historische Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts über die Geldpolitik der EZB, in dem erstmals offen eine Entscheidung des EuGH zurückgewiesen wird, stellt eine nie dagewesene Herausforderung für die europäische Rechtsordnung dar. Ich versuche darzulegen, wie die Argumentation aus Karlsruhe jedem nationalen Gericht als Muster dienen kann, um den den EuGH nach Belieben zu ignorieren. Die Explosion der europäischen Rechtsordnung wäre wohl nur mit einer – politisch kaum zu erwartenden – raschen Zurechtweisung Deutschlands in einem Vertragsverletungsverfahren abzuwenden.
17. Mai 2020
8' Lesezeit
Das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in Karlsruhe, dem Pendant zum österreichischen Verfassungsgerichtshof, über die Verfassungswidrigkeit der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) ist gleich aus mehreren Gründen historisch. Es wird Auswirkungen auf die europäische Rechtsordnung, die Geldpolitik, die Machtverteilung der europäischen Institutionen und natürlich auch auf die deutsche Innenpolitik haben.
Ich werde mich auf den wesentlichen Punkt beschränken, jenem der Beziehung zwischen nationalem Recht und Europarecht beziehungsweise zwischen nationaler und europäischer Gerichtsbarkeit und auf die meines Erachtens desaströsen Konsequenzen des deutschen Urteils.
Die geldpolitische und wirtschaftliche Bewertung der Politik der EZB, aber auch die Beantwortung der Fragen, ob die EZB europarechtskonform und die deutsche Bundesbank Grundgesetzkonform gehandelt haben, traue ich mir nicht zu; sie erscheinen mir auch als absolut zweitrangig.
Grundlagen des Europarechts
Um den Kontext und die Folgen des Urteils des BVerwG zu verstehen, ist etwas Grundwissen über die europäischen Rechtsordnung und die wesentlichen Begriffe notwendig:
- Eine „Vorabentscheidung“ gemäß Art. 267 AEUV ist ein Verfahren, bei dem nationale Gerichte den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um Klärung europarechtlicher Fragen, die im eigenen Verfahren auftauchen, ersucht.
- Der EuGH hat im Zuge solcher Verfahren sehr früh ein „Auslegungsmonopol“ für Europarecht beansprucht. Die Begründung ist denkbar einfach: Nur so kann die einheitliche Auslegung des Rechts der EU in allen Staaten gewährleistet werden, was insbesondere eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Binnenmarkts ist.
- Darüber hinaus hat sich in der Rechtssprechung des EuGH auch der „Anwendungsvorrang“ des Europarechts über nationales Recht, auch Verfassungsrecht, herauskristallisiert, weil ansonsten die europäische Rechtsordnung einfach durch nationales Recht ausgehebelt werden könnte.
- Diese Prinzipien wurden von nationalen Gerichten, aber auch von der Legislative und Exekutive bislang grundsätzlich annerkannt – was der EuGH über Europarecht entscheidet, gilt und wird umgesetzt. Dies entspricht auch dem Grundsatz der „loyalen Zusammenarbeit“ gemäß Art. 4 EUV entspricht. Urteilt ein Gericht nicht europarechtskonform, begeht der Staat eine Vertragsverletzung und kann, wenn er von Kommission oder einem anderen Mitgliedstaat angeklagt wird, vom EuGH verurteilt werden.
Der EuGH hat seit 1963 das Auslegungsmonopol des europäischen Rechtsbestands sowie die unmittelbare Anwendbarkeit seiner Urteile – auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht – beansprucht, was von nationalen Gerichten auch weitgehend anerkannt wurde. Dadurch wird die Einheit des europäischen Rechts in allen Mitgliedstaaten garantiert.
Drei Brüche mit dem EuGH
Ohne auf die komplexe rechtliche Vorgeschichte einzugehen möchte ich nun die wesentlichen Etappen des Bruches des BVerfGs mit dem EuGH darstellen.
Das BVerfG hat bislang nur zweimal vom EuGH um eine „Vorabentscheidung“ ersucht. Die erste Vorlage betraf das angekündigte EZB-Programm der „Outright Monetary Transactions“, das letztlich niemals umgesetzt wurde. Vereinfacht gesagt urteilte der EuGH, dass die EZB auch bei Umsetzung ihre Kompetenzen nicht überschritten habe (insb. keine nach Art. 123 AEUV verbotene Finanzierung der Mitgliedstaaten betrieben habe). Das BVerfG nahm diese Entscheidung zur Kenntnis, ließ dabei aber deutlich anklingen, dass es sich grundsätzlich das Recht herausnehme, vom EuGH abweichende Beurteilungen vorzunehmen – ein erster Bruch mit dem Auslegungsmonopol.
Die zweite, gegenständliche Vorlage des BVerfG betrifft ein anderes Programm der EZB, mit der diese tatsächlich am Sekundärmarkt Staatsanleihen kaufte – das „Public Sector Purchase Programme (PSPP)“. Der EuGH verneinte am 11. Dezember 2018 erneut, dass die EZB ihre Kompetenzen damit überschritten habe (keine Verletzung von Art. 123 AEUV). Der Argumentation des EUGH folgt das BVerwG in seinem Urteil vom 5. Mai bereits nicht mehr. Er gelangt zwar zum gleichen Schluss, aber mitteils einer eigenen, unabhängigen Auslegung des Europarechts.
Der dritte, unmissverständliche Bruch des BVerfG mit dem Grundsatz des Auslegungsmonopols des EuGH betrifft aber einen anderen Punkt, nämlich die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen der EZB. Der EuGH hatte argumentiert, dass die EZB mit dem PSPP-Progamm keine „offensichtliche“ Kompetenzübertretung begangen habe, da die Verfolgung geldpolitischer Ziele, wie die Erreichung eines gewissen Inflationsniveaus, unweigerlich mit gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen verbunden sei. Deshalb könne eine Trennung beider Bereiche nicht sinnvoll vorgenommen werden und eine Kompetenzüberschreitung nicht festgestellt werden. Das BVerfG sieht diese Argumentation aufgrund bestimmter inhaltlicher Auslegungsdifferenzen als „objektiv willkürlich“ (Rn. 112) an, weil er seine Argumentation für „methodisch nicht nachvollziehbar“ befindet.
Das BVerwG geht dann noch weiter und beantwortet und die inhaltliche Frage gleich selbst: Die EZB habe die Verhältnismäßigkeit nicht belegt und müsse nun nachbessern, ansonsten dürften deutsche Vertreter der Bundesbank bei dem Programm nicht mehr mitstimmen. Dieser konkrete Punkt dürfte vonseiten der EZB leicht zu beheben sein, weshalb unmittelbare geldpolitische Konsequenzen meines Erachtens kaum zu erwarten sind.
Die Argumentation des BVerwG
Es lohnt es sich, die grundsätzliche Argumentation des BVerwG in Einzelteile zu zerlegen, weil dadurch auch verständlich wird, wie andere Mitgliedstaaten reagieren werden.
- Handlungen von der Organen der EU, welche die Kompetenzen, die ihnen in Verträgen zugewiesen sind, überschreiten (im Fachjargon „ultra-vires-Akte“), sind laut BVerwG für Mitgliedstaaten und ihre Institutionen nicht bindend.
- Wenn der EuGH „objektiv willkürlich“ urteilt, überschreitet er für den BVerwG seine Kompetenzen und handelt ultra vires.
- Das BVerwG vertritt inhaltlich eine gänzlich andere Einschätzung der Rechtfertigung der Verhältnismäßigkeit durch EZB als der EuGH und kann sie „methodisch“ nicht nachvollziehen. Dies setzt er mit „objektiver Willkür“ gleich.
- Daraus folgt, dass das BVerwG ein unmissverständliches Urteil des EuGH – in einem rein europarechtlichen Punkt – nicht als bindend anerkennt.
Das erste Postulat stellt formal bereits eine Verletzung der Einheit des Rechtsrahmens der EU dar. Das BVerwG nimmt sich das Recht heraus, die Handlungen des EuGH zu prüfen, schon eine eigene, parallele europarechtliche Bewertung ist. Problematisch ist dabei nicht nur, dass dies kaum als „loyale Zusammenarbeit“ mit dem EuGH gemäß Art. 4 EUV gesehen werden kann, sondern auch, dass jedes Höchstgericht – in Anbetracht der eigenen Verfassung – etwas anderes unter ultra vires verstehen kann und wird. Wenden mehrere Höchstgericht so ein Kriterium an, ist eine Zersplitterung des Europarechts kaum vermeidbar.
Einem Zusammenbruch der europäischen Rechtseinheit könnte entkommen, wenn ultra vires sehr eng gefasst werden würde, also etwa wenn es sich ausschließlich auf offensichtliche verfahrensrechtliche Versäumnisse beschränken würde, die mit universellen Kriterien feststellbar sind und durch ein erneutes Urteil des EuGH leicht aus dem Weg geräumt werden können.
Der dritte Punkt der Argumentation des BVerwG vernichtet diese Hoffnung jedoch gründlich, weil „methodisch nicht nachvollziehbare“ bzw. „objektiv willkürliche“ Urteilsbegründungen als eine Form von ultra-vires-Handlung gesehen wird. Macht dieser Ansatz Schule, steht es jedem Verfassungsgericht frei, ein Urteil des EuGH zu ignorieren, wenn es nur „methodisch nicht nachvollziehbar!“ schreit. Eine zersplitterte Europarechtssprechung von 27 Höchstgerichten ist die unweigerliche Folge.
Der bizarre Wunsch nach einem „besseren“ EuGH
Es ist interessant, dass das BVerwG dieses Problem selbst erkennt und im Urteil richtigerweise festhält:
„Wenn jeder Mitgliedstaat ohne Weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet.“ (Rn. 111 des Urteils des BVerwG)
Nur bleibt es uns die Erklärung schuldig, weshalb das eigene Urteil nicht genau dazu führe. In zwei Interviews meldeten sich zuletzt Verfassungsrichter zu Wort, und versuchten eine Rechtfertigung. Es gehe, anders als in Ungarn oder Polen, nicht darum, den EuGH aus der Kontrolle herauszuhalten: „Wir wollen also mehr EuGH, wir wollen, dass er seinen Job besser macht.“ Zudem werde der EuGH nur „in absoluten Ausnahmefällen“ zurechtgewiesen..
Das BVerwG vertritt inhaltlich eine gänzlich andere Einschätzung zum Thema EZB als der EuGH, weshalb es dessen Beurteilung als „objektiv willkürlich“ verwirft und sich selbst das Recht nimmt, Europarecht „besser“ auszulegen. Zugleich sollen andere, vermeintlich weniger aufgeklärte und wohlmeinende Höchstgerichte ebendies nicht dürfen.
Jedoch ist nicht nachvollziehbar, weshalb etwa Ungarn und Polen nicht ebenfalls „in Ausnahmefällen“ argumentieren dürften, dass der EuGH „seinen Job besser machen solle“ – „besser“ ist eben ein subjektiver Begriff, der nicht viel mehr als „meine Einschätzung teilend“ bedeutet. Es scheint fast, als nähme sich das BVerwG nicht nur das Recht heraus, den EuGH zurechtzuweisen, sondern als wolle es dieses Recht auch noch anderen Verfassungsgerichten absprechen. Der Eindruck der Hybris der deutschen Höchstrichter, die sich als wohlwollende Lehrmeister des EuGH gerieren, ist schwer von der Hand zu weisen.
Zukunftsperspektiven
Als nächster konkreter Schritt steht die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland im Raum, da ja das Urteil des EuGH nicht umgesetzt wurde. Ein solches Verfahren anzustoßen liegt im Kompetenzbreich der Kommission, die bereits damit drohte, oder einzelnder Mitgliedstaaten, die sich wohl davor hüten werden.
Politisch wäre es in einer Zeit der nahenden Wirtschaftskrise und einer neuen geldpolitischen Ausnahmesituation äußerst riskant, den BVerwG auf seinen Platz zu verweisen und das Auslegungsmonopol des EuGH zu erneuern, weil das Verfassungsgericht dadurch zum Märtyrer gegenüber den angeblich „undemokratischen“ Institutionen EZB und EuGH werden würde.
Aus rein rechtlicher Perspektive wäre eine solche Zurechtweisung jedoch unbedingt nötig, bevor andere Höchstgerichte an der Rolle des EU-Gerichts gefallen finden und mit dem Verweis auf den deutschen Präzedenzfall jegliche Einheit des Europarechts zerstören. Zu erwarten, dass andere Mitgliedstaaten nur Deutschland das Privileg des „eigenen“ Europarechts lassen, ist unglaublich naiv.
Insbesondere bei hochpolitischen Fragen um unerlaubte Staatshilfe, Asylrecht oder Nichtdiskriminierung von EU-Unternehmen und -Bürgern sind Zersetzungsphänomene schon bald zu erwarten. Damit wäre auch der wohl größte Erfolg der EU, der Binnenmarkt, akut in Gefahr.
Da ein Vertragsverletzungserfahren gegen Deutschland derzeit politisch kaum vorstellbar ist, werden wohl andere Verfassungsgerichte nachziehen wollen und anfangen, den EuGH in verschiedenen Bereichen zu ignorieren, wodurch auch der Binnenmarkt in akute Gefahr geräte. Dass das hehre Ziel des BVerwG nach „mehr“ und einem „besseren“ EuGH erreicht wird, wage ich deshalb zu bezweifeln.