Die Entscheidung des Supreme Court der Vereinigten Staaten, die seit fast 50 Jahren gültige Rechtssprechung „Roe v. Wade“ aufzuheben und damit das bundesweite Recht auf Abtreibung aufzuheben, hat weltweit für Entrüstung gesorgt. Ohne auf rechtliche Details eingehen zu wollen – oder zu können – ist diese Entscheidung offenkundig problematisch, weil sie eine über Jahrzehnte etablierte, Rechtssprechung ohne einleuchtende Gründe aufhebt und den Weg für fast überall von der Mehrheit abgelehnte drakonische Abtreibungsverbote und Lebensgefahr bei Fehlgeburten in mehreren Bundesstaaten ebnet.
Ich möchte in diesem Artikel jedoch nicht auf diese bereits hinlänglich bekannten Punkte eingehen, sondern stattdessen den dominanten „liberalen“1 Gegendiskurs untersuchen seine Schwächen und Widersprüche aufzeigen, die es Abtreibungsgegner erlauben, ihre eigenen Inkohärenzen nicht zu offenbaren und in einem polarisierten Diskurs die Oberhand zu gewinnen.
Ein absolutes Recht: „my body, my choice“
Der Kernsatz des liberalen Gegendiskurses ist der Slogan „mein Körper, meine Entscheidung“ („my body, my choice“) der bei Demonstrationen, von Politikern und Medien, die Abtreibung befürworten mantraartig wiederholt wird. Auf den ersten Blick erscheint diese Reduktion auf die Frage der Selbstbestimmung der schwangeren Fraue über ihren eigenen Körper überzeugend. Wenn man gänzlich frei über medizinische (medikamentöse und chirurgische Behandlung) und ästhetische (Tatoos, Piercings, ästhetische Chirurgie) Eingriffe entscheiden kann, weshalb nicht über die Abtreibung, die ebenfalls eine Art von Eingriff in den eigenen Körper darstellt?
Doch dieser Gedankengang führt rasch zu groben moralischen und rechtlichen Schwierigkeiten. Offenkundig wäre es spätestens ab dem Zeitpunkt, ab dem das Fötus bei einer Geburt sehr hohe Überlebenschancen hätte, einigermaßen abenteuerlich, die Abtreibung einzig als medizinischen Eingriff in den Körper der Frau zu betrachten. Es wäre einigermaßen absurd, so zu tun als ob es das zweite dabei involvierte Lebewesen, das spätestens bei der Geburt zu einer Person (mit sämtlichen Menschenrechten, darunter dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) wird, einige Stunden oder Tage davor einfach nicht gebe, dass der Durchgang durch den Geburtskanal der Entstehungszeitpunkt aller moralischer Verpflichtungen ihm gegenüber sein solle. Die Fiktion, es gebe nur einen Körper, in den eingegriffen wird, ist spätestens bei Abtreibungen kurz vor einer möglichen Lebendgeburt nicht mehr haltbar.
Es wäre einigermaßen absurd, so zu tun als ob es den Fötus, der nach dem Durchgang durch den Geburtskanal zu einer Person mit sämtlichen Menschenrechten wird, einige Tage oder Stunden zuvor überhaupt nicht gebe.
Solange keine Gefahr für die Gesundheit der Mutter besteht und das Fötus gesund erscheint, gibt es deshalb auch kaum Gesetzgebungen,2 in denen Abtreibung ohne zeitliche Beschränkung möglich ist. Die Frist für Abtreibungen, die in den USA 1973 mit Roe v. Wade eingeführt wurde (und 1992 leicht adaptiert wurde) bezieht sich genau auf Zeit vor der Überlebensfähigkeit des Fötus (etwa bis zur 24. Schwangerschaftswoche); in Westeuropa ist sie meist wesentlich kürzer (meist bis zur 12. oder 14. Schwangerschaftswoche).3 Diesen „Fristenlösungen“ liegt immer eine Abwägung zwischen dem Recht der Schwangeren, über ihren eigenen Körper und ihre eigene Zukunft zu bestimmen und dem Recht des Lebewesens, welches das Potential zum Menschsein Schritt für Schritt verwirklicht und zur Person wird, auf Leben und Unversehrtheit, zugrunde. Auf das Ergebnis dieser Abwägung, die von wissenschaftlichen, ethischen und sozialen Bewertungen4 abhängt, möchte ich in diesem Artikel nicht näher eingehen; wesentlich ist nur, dass sie nicht umgangen werden kann.
Die gefährliche Instrumentalisierung der Empörung
Den meisten Abtreibungsbefürwortern wird klar sein, dass diese Abwägung existiert, ja existieren muss und dass Abtreibungen mit fortschreitender Schwangerschaftsdauer ethisch immer problematischer werden. Die Zuspitzung auf ein alles übertrumpfendes Recht zur Selbstbestimmung und den rein positiv konnotierten Marketingbegriff „pro-choice“ ist deshalb lediglich eine Mobilisierungsstrategie. Sie versucht, über die Empörung der Anhänger eine einheitliche Bewegung zu schaffen und nimmt dafür argumentative Schwächen inkauf. Es ist natürlich leichter, Menschen für Abtreibungsrechte zu mobilisieren, wenn es nicht um eine komplexe Abwägung von Werten geht, sondern um einen Abwehrkampf gegen einen ideologischen Feind, der – offenbar aus purer Lust an Unterdrückung – Frauen das Recht zur körperlichen Selbstbestimmung nehmen will.
So zu tun, als handle es sich bei der Abtreibungsfrage nicht um ein genuines moralisches und rechtliches Problem, sondern lediglich um eine triviale Frage der Selbstbestimmung; so zu tun, als seien alle Abtreibungskritiker Ideologen, deren eigentliches Ziel die Unterdrückung der Frauen sei, empört und mobilisiert das eigene Lager. Aber das Übergehen jeglicher Rechte des Embryos emotionalisiert und bestärkt auch die Gegenseite und nährt den Kulturkampf zwischen zwei maximalistischen Ideologien.
Mir erscheint dieser Ansatz nicht nur prinzipiell, aufgrund seiner mangelnden intellektuellen Aufrichtigkeit, sondern auch aus pragmatischen Gründen fehlgeleitet. Dadurch, dass sich Abtreibungsbefürworter selbst karikieren, sind sie für radikale Abtreibungsgegner ein ideales Ziel. Es ist für diese einfach, zur Abwehr gegen eine scheinbar verrohte Ideologie aufzurufen, in welcher das Leben des menschlichen Embryo nichts Wert ist („anti-life“), solange es sich im Mutterleib befindet. Es braucht dafür nicht einmal einen Strohmann aufzubauen – die Abtreibungsbefürworter stellen sich selbst als unbelehrbare Extremisten dar, mit denen man nicht ins Gespräch kommen kann.
Damit wird ein Kulturkampf zwischen zwei maximalistischen und lebensfernen Ideologien genährt, der einen Konsens, wie er im Westen mit Fristenlösungen und breitem Zugang zu Verhütung fast überall besteht, erschwert. Nur in einem solchen Kulturkampf ist es möglich, dass radikale Abtreibungsgegner die Oberhand gewinnen, weil sie nicht vor ihre eigenen, offenkundigen Widersprüche gestellt werden.5 Das Spiel mit der Empörung wird nicht immer gewonnen.
- Im US-amerikanischen Sinn. ↩︎
- Lediglich in Kanada scheint es überhaupt keine rechtliche Einschränkung den Zeitpunkt der Abtreibung betreffend zu geben. Offenbar gibt es trotzdem keine Abtreibungskliniken, die nach der 24. Schwangerschaftswoche rein freiwillige Unterbrechungen durchführen. ↩︎
- Dies wird sowohl in Europa als auch in den USA interessanterweise komplett ausgeblendet. ↩︎
- Meines Erachtens ist das beste Argument, Abtreibungen bis zu einem gewissen Zeitpunkt zu erlauben, ein sozialer und kein individueller: Ungewollte Geburten sind für Mutter, Kind und Umfeld oftmals äußerst problematisch. Illegale Abetreibungen sind zudem, wie aus der Geschichte ersichtlich nicht zu vermeiden, gefährlicher und finden später und damit tendenziell näher an der Personenwerdung statt. ↩︎
- Etwa, dass Zugang zu Verhütung das wohl wichtigste Mittel ist, um ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen zu verhindern oder, dass besonders scharfe Abtreibungsgesetze etwa bei Fehlgeburten das Leben von Frauen gefährden. ↩︎