Heucheln über Heuchler – der Ukrainekrieg, Interessen und Werte in der Außenpolitik

Am Beispiel der kürzlich erschienenen Interviews des indischen Außenministers mit österreichischen Medien möchte ich herausarbeiten, wie die Kritik an der Inkonsistenz oder gar Heuchlerei des Westens, wenn es um die Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrechten geht, dazu missbraucht wird, noch problematischere Doppelstandards zu überspielen. Sie führt zudem im Kontext des Ukrainekriegs zu einer irrationalen Schadenfreude über die Schwächung des Westens und seines Wertesystems. Abschließend gehe ich auf die Fähigkeit zur Selbstkritik des Westens ein, die es ihm erlaubt, eigene Doppelstandards sichtbar zu machen und ihnen entgegenzuwirken, was außerhalb des Westens kaum geschieht.

  15. Jänner 2023    7' Lesezeit

Die Zurückhaltung zahlreicher Staaten bei der Verurteilung der russischen Agression gegen die Ukraine wird oftmals – sowohl im Westen1 selbst als auch im Ausland – mit der „Heuchelei“ des Westens erklärt, mit seiner angeblichen moralisierenden Tendenz, Werte und Prinzipien nur selektiv anzuwenden. Ein gutes Beispiel dafür lieferte der indische Außenminister, der anlässlich seines Österreichbesuchs eine Reihe von Interviews gab, in denen er dieses Narrativ offensiv und redegewandt vertritt. In diesem Artikel möchte ich auf Widersprüche und Schwächen dieses Arguments hinweisen, die meines Erachtens weit über die Inkohärenzen des Westens hinausgehen.

Der heuchelnde Westen

Das grundlegende Argument der Kritiker des Westens, dessen sich auch der indische Außenminister Jaishankar bedient, ist simpel:

  1. Der Westen gibt vor, für gewisse universelle Werte (Völkerrecht, Menschenrechte etc.) einzustehen.
  2. Diese Werte werden vom Westen jedoch nicht immer verteidigt, sondern nur, wenn es opportun ist.
  3. Der Westen vertritt also eigentlich nur Interessen und heuchelt universelle Werte vor.

Der zweite Punkt wird üblicherweise entweder mit völkerrechtswidrigen Angriffskriegen (von Teilen) des Westens – der Irakkrieg von 2003, manchmal auch die Bombardierung Serbiens 1999 oder Libyens 2011 – oder mit der westlichen Zurückhaltung bei der Verurteilung anderer Interventionen – etwa jenem im Jemen 2015 – begründet. Ich möchte auf dieses Punkt inhaltlich erst im letzten Abschnitt zurückkommen und ihn zunächst – des Argumentes wegen – als gegeben annehmen.

Es gibt nur Interessen... (für mich)

Die Argumentation selbst ist stringent, lässt jedoch die Frage offen, welche Schlüsse daraus – insbesondere im gegenwärtigen Fall des Ukrainekriegs – gezogen werden. Jaishankar wählt zunächst eine „realistische“ Perspektive, nach der Werte letztlich gänzlich irrelevant seien und nur Interessen zählten, weshalb auch nicht-westliche Staaten nur auf ihre Interessen blicken dürften und sich um Werte nicht kümmern müssten:

„Wir werden unsere Sicherheit nicht opfern. Wenn also in Europa die Erwartung besteht, dass wir das tun, weil Europa ein Problem hat, dann ist das meiner Meinung nach keine vernünftige Erwartung.“ (Subrahmanyam Jaishankar, 3.1.2023)

Diese Rechtfertigung für das (unter anderem) indische „neutrale“ – de facto Russland indirekt unterstützende – Verhalten erscheint2 nachvollziehbar, ist aber letztlich inkompatibel mit der ursprünglichen Anschuldigung der „Heuchelei“ die selbst eine wertende ist, weil sie implizit das Gebot enthält, dass Staaten aufrichtig sein müssen. Wer nur Interessen kennt, für den ist Heuchelei schlichtweg keine Kategorie.

...aber schließlich doch auch Werte (für euch)

Letztlich wird diese Reduktion auf Interessen ohnehin verworfen, weil der Westen doch zur Einhaltung von Werten und Prinzipien (wie dem Völkerrecht) ermahnt wird – aber eben für Konflikte, die einen selbst betreffen. Jaishankar erklärt nämlich am Ende desselben Interviews:

„Wenn es aber zu einer Situation kommt, in der eine Seite [China] sagt: Ich werde Truppen gegen Abkommen einsetzen, die ich selbst unterzeichnet habe, dann steckt darin eine Botschaft an die internationale Gemeinschaft. Insofern sollte die internationale Gemeinschaft besorgt sein.“ (Subrahmanyam Jaishankar, 3.1.2023)

Diese Forderung ist eine, die nicht auf Interessen, sondern allein auf Werten gründet.3 Die internationale Gemeinschaft, also auch der Westen, solle, so Jaishankar, besorgt sein, wenn etwa China Abkommen nicht einhält und militärische Optionen in Erwägung zieht. Soweit, so nachvollziehbar, nur nicht von einer Person die sich drei Absätze vorher selbstbewusst das Recht herausnimmt, aus nationalem Interesse Völkerrechtsverletzungen zu ignorieren und die Kooperation mit den dafür Verantwortlichen zu intensivieren. Natürlich sollte der Westen an seinen Werten – insbesondere an der Einhaltung des Völkerrechts – gemessen werden; ernstnehmen sollte man Aufrufe dazu aber nur von jenen, die zumindest prinzipiell dazu bereit sind, sich auch daran zu halten – was auf Indiens Außenminister offenbar nicht zutrifft.

Die Heuchelei des Westens wird zumeist nicht angeprangert, um ernsthaft mehr Respekt für Grundprizipien der internationalen Beziehungen einzufordern („ihr solltet eure Prinzipien einhalten, wir tun es auch“), sondern um die eigenen Doppelstandards zu verdecken („wir haben nur Interessen, aber ihr sollt euch an eure Prinzipien halten“). Eine Heuchelei zweiter Ordnung, gewissermaßen.

Dieses argumentative Muster ist derzeit in verschiedenen Variationen in zahlreichen Ländern, von Südamerika über Afrika und Asien zu betrachten. Auch in Serbien wird der eklatante Widerspruch zwischen dem pedantischen Legalismus bei der Kosovo-Frage (mit gebetsmühlenartigen Verweisen auf die Sicherheitsratsresolution 1244) und dem ohrenbetäubenden Schweigen zur Aggression gegen die Ukraine durch schamlose Verweise auf die Doppelmoral des Westens überspielt, in denen die russische Aggression mit dem NATO-Bombardement von 1999 gleichgesetzt wird.4

Das Interesse am Völkerrecht und die Schadenfreude

Sehen wir nun über den Zynismus der Argumentation hinweg, durch den sich, wie Indien, viele Staaten vor einer klaren Verurteilung Russlands drücken und betrachten wir für einen Moment tatsächlich lediglich ihre Interessen. Das Interesse, kurzfristig aus dem Krieg Profit zu schlagen, sei es direkt über den Handel mit sanktionierten Gütern, günstigere Rohstoffe oder indirekt über Konzessionen des Westens oder Russlands für eine mehr oder weniger starke Unterstützung in den Vereinten Nationen ist offenkundig.

Doch ebenso klar sollte das langfristige Interesse (fast) aller Staaten sein, zumindest die Grundpfeiler des Völkerrechts, eines öffentlichen Guts der Staatengemeinschaft, zu schützen, deren vier (!) wichtigste – das Gewaltverbot, den Respekt der territorialen Integrität, den Respekt von völkerrechtlichen Abkommen sowie die Grundregeln des Kriegsrechts – Russland seit 2014 und seit 2022 in unmissverständlicher Brutalität verletzt hat. Selbst der Außenminister Indiens – des bevölkerungsreichsten Lands der Welt und einer Atommacht – erkennt, wie wir oben gesehen haben, den Wert dieser Prinzipien an, in dem er sich auf sie beruft. Noch weit mehr trifft dies auf kleinere, schwächere Staaten zu, die vom normativen Schutz des Völkerrechts überproportional profitieren.

Grundprinzipien des Völkerrechts wie das Gewaltverbot, der Respekt von völkerrechtlichen Abkommen oder die Einhaltung der Genfer Abkommen, sind ein öffentliches Gut und haben einen enormen Wert für alle, vor allem mittelgroße und kleine Staaten der Welt. Wird ihre komplette Missachtung gebilligt oder indirekt belohnt, nimmt die gesamte Staatengemeinschaft schaden; die schwerwiegendsten Konsequenzen sind naturgemäß für schwächeren Staaten zu erwarten, nicht für den Westen, der über solide Militärbündnisse, moderne Waffen und mehrere Atommächte verfügt.

Es ist offensichtlich, dass eine fundamentale – in Ausmaß und Deutlichkeit seit 1945 nicht mehr gesehene – Infragestellung der Grundpfeiler der internationalen Ordnung nicht für kurzfristige Handelsvorteile einer vertieften Beziehung mit Russland inkauf genommen werden sollte.5 Das Interesse aller Staaten, die nicht vollständig von Russland abhängig sind, sollte es also sein, dass der Angriffskrieg von Russland rasch scheitert und sich nicht als Präzedenzfall für neue Weltordnung auf der Basis von Grenzrevisionismus und nuklearer Erpressung etabliert.

Weshalb wird diese Interessenslage nicht erkannt? Meines Erachtens aufgrund einer gewissen Schadenfreude des „globalen Südens“ gegenüber der Schwierigkeiten des Westens.6 Der Westen hat uns nicht unterstützt, jetzt tun wir dies auch nicht – obgleich wir in diesem Fall wohl dieselben Interessen hätten.

Diese Haltung ist in einem früheren Zitat von Jaishankar zu erkennen, in dem der Krieg in der Ukraine als ein „europäisches Problem“ bezeichnet, und als Retourkutsche für das Desinteresse Europas an der Welt interpretiert:

„somewhere Europe has to grow out of the mindset that Europe's problems are the world's problem but the world's problems are not Europe's problems“ (Subrahmanyam Jaishankar, 3.6.2022)

Nun ist aber – ganz gleich wie man zur europäischen oder westlichen Haltung in anderen Fällen stehen mag – der Angriffskrieg auf die Ukraine, in dem das flächenmäßig größte Land der Welt, ein ständiges Sicherheitsratmitglied, gestützt durch nukleare Erpressung, seinen Nachbarn angreift und sich einzuverleiben versucht, und dabei humanitäres Völkerrecht mit den Füßen tritt, schlichtweg kein bloß „europäisches Problem“. Die bislang nie dagewesene Zerstörung universell anerkannter Werte im Herzen ihres Herkunftsort als lokales Problem zu verstehen, ist bestenfalls naiv.7

Westliche Heuchelei oder Lernfähigkeit?

Kommen wir schließlich auf die Charakterisierung des Westens als „heuchlerisch“ zurück, die mittlerweile – nicht zuletzt im Westen selbst – zum Allgemeinplatz geworden ist. Es ist sicherlich richtig, dass zahlreiche Interventionen mit westlicher Beteiligung völkerrechtlich problematisch (Bombardierung Serbiens 1999, Libyen 2011) bis klar völkerrechtswidrig (Irak 2003) waren. Diese Grenzüberschreitungen als „Heuchlerei“ zu kategorisieren, bedeutet nun, dass sie (1) bewusst als solche inkauf genommen wurden und nicht auf fehlerhafter faktischer oder rechtlicher Beurteilung begründet waren und (2) weiterhin verteidigt werden.

Dies ist meines Erachtens nicht der Fall. Man kann darüber streiten, ob die erwähnten Verfehlungen bewusst oder aufgrund von Naivität entstanden sind, unbestreitbar ist jedoch, dass sie korrigiert werden konnten – mittlerweile sieht kaum mehr jemand im Westen den Angriff auf den Irak 2003 als gerechtfertigt an (ähnliches gilt im Übrigen für den Vietnamkrieg). Im Gegensatz zu ihren nichtwestlichen Pendants sind Entscheidungsträger und Medien im Westen auch in Bezug auf ihre eigenen Fehler (wenn auch langsam und unvollständig) lern- und einsichtsfähig.8

Der Westen agiert nicht immer in Einklang mit den von ihm verteidigten Normen und Werten. Doch zumindest bleibt ihm der Anspruch an die Universalität der Werte und damit auch die Fähigkeit zur Einsicht und Selbstkritik. Paradoxerweise lässt diese Selbstkritik die Inkonsistenzen vergleichsweise freier Gesellschaften oft größer erscheinen, als sie es tatsächlich sind.

Selbstverständlich bestehen gewisse Doppelstandards in der westlichen Außenpolitik – aber zugleich bleibt der Anspruch, universelle Werte und Normen selbst einzuhalten, bestehen, wodurch später Inkohärenzen herausgearbeitet und kritisiert werden können,9 wie es andernorts kaum passiert.10 Es ist paradoxerweise gerade diese Offenheit in der Bewertung und Kritik, die das Ausmaß der Inkohärenzen in freien Gesellschaften größer erscheinen lässt, als es tatsächlich ist.

  1. Den unscharfen und in vielen Zusammenhängen kontraproduktiven Begriff des „Westens“ behalte ich bei – weil er in diesem Kontext relativ klar definiert ist: Er umfasst jene entwickelte Staaten, die Russland für den Angriffskrieg klar verurteilen und sanktioniert haben. Die Türkei und Israel gehören also nicht dazu, Japan und Südkorea hingegen schon, womit vom historischen, kulturellen Begriff des „Westens“ natürlich abgewichen wird. ↩︎
  2. Es bleibt jedoch offen, inwiefern die indische Sicherheit „geopfert“ würde, wenn ab jetzt keine russischen Waffensysteme mehr gekauft würden. ↩︎
  3. Bei einer solchen Forderung würde dem Westen an wohl „Moralisieren“ vorgeworfen werden. ↩︎
  4. Auch wenn dieses völkerrechtlich nicht gedeckt war und durchaus verurteilt werden kann, sind die beiden Fälle weder in der Intention, noch in der Anzahl der Toten, der Dauer, dem Ausmaß der Zerstörung und Kriegsverbrechen auch nur ansatzweise vergleichbar. Eine Gleichsetzung ist nicht nur zynisch, sondern widerwärtig. ↩︎
  5. Angenommen natürlich, dass Russland nicht zum zukünftigen globalen Hegemon wird, wovon aufgrund der wirtschaftlichen und auch militärischen Schwäche Russlands kaum auszugehen ist. ↩︎
  6. Damit hängt eine gewisse Tendenz zusammen, in Staaten die (durch Kolonialismus, Imperialismus, Krieg, etc.) „auch gelitten“ haben, alle Formen des Kriegs und des Leidens als gleichwertig zu sehen. ↩︎
  7. Dass dies in Europa geschieht, dem Herkunftsort dieser Werte (durch das moderne Konzept des „Staats“, die Aufklärung und schließlich das Erbe der Weltkriege), spielt dabei nur eine untergeordnete, aber ebenfalls nicht zu vernachlässigende Rolle. ↩︎
  8. Dazu zählt auch, dass teilweise fadenscheinige Gründe für Kriegseintritte im Westen aufgedeckt wurden und mittlerweile allgemein bekannt sind. ↩︎
  9. Der Einfachheit halber habe ich den „Westen“ als ein Block behandelt, auch wenn gewisse Unterschiede zwischen Ländern bestehen. Die USA sind sicherlich ein Sonderfall mit einer besonders geringen Bereitschaft zur Einsicht vonseiten staatlicher Institutionen, jedoch auch einer aktiven Medienlandschaft, die Inkohärenzen aufdeckt. ↩︎
  10. Jedenfalls sicher nicht in Russland oder China, aber auch immer weniger etwa in der Türkei oder Israel. ↩︎