Kultur als Werkzeug der Außenpolitik – Perspektiven für die EU

Das gegeinseitige kulturelle Verständnis beeinflußt außenpolitische Beziehungen maßgeblich. Die Einflußnahme auf die Art, in der politische und mediale Eliten sowie die breitere Bevölkerung die Kultur des eigenen Staats wahrnehmen, ist deshalb ein zentrales Instrument der Außenpolitik. Europäische Staaten sollten dieses gerade in Zeiten der existentiellen Bedrohung nicht vernachlässigen. Den Schwächen der Europäischen Union im Ausland kann auch in schwierigen Kontexten gezielt über den Aufbau von Vermittlergruppen, die Schaffung wirtschaftlicher Bedingungen für kulturelle Koproduktionen und die Unterstützung für die Sichtbarkeit der eigenen kulturellen Inhalte entgegengewirkt werden. Um einen effektiven Einsatz zu gewährleisten, sind der Aufbau eines EU-Koordinierungsmechanismus, die Arbeitsteilung zwischen Mitgliedstaaten und eine kontextspezifische Umsetzung von Projekten notwendig.

  12. Oktober 2024    7' Lesezeit

Kultur als Grundlage für internationale Beziehungen

In gewissen Fällen ist es sinnvoll, die Konsequenzen einer offensichtlich wirkenden Aussage ernstzunehmen und genauer zu untersuchen. Ein Beispiel dafür ist folgender Satz: „Jeder menschliche Austausch baut entweder auf einer geteilten Grundlage an Wissen, Werten, Vorstellungen und Praxen auf, oder baut diesen aus.“ Diese gemeinsame Grundlage, die wir unter dem Begriff „Kultur“ zusammenfassen können, ist nicht nur für Kommunikation, sondern auch für Handel, Spiel oder Krieg unerlässlich. Das gegenseitige kulturelle Verständnis bedingt jeden Kontakt und wird durch diesen weiterentwickelt. Internationale Beziehungen sind keine Ausnahme: Das gegenseitige kulturelle Verständnis beeinflusst maßgeblich die Bewertung der aktuellen und zukünftigen Stärke und Stabilität des Gegenübers, die Interpretation dessen Handlungen und Signale und damit auch das gegenseitige Vertrauen oder Misstrauen. Drei Zielgruppen sind in diesem Kontext besonders relevant, da sie die Außenpolitik kurz-, mittel- und langfristig beeinflussen:

  1. politische Eliten, welche die Politik des Staats lenken oder ausführen und einen unmittelbaren Einfluss auf internationale Beziehungen haben;
  2. mediale Eliten,1 die einen mittelbaren Einfluss auf politische Eliten oder breitere Bevölkerungsschichten selbst ausüben;
  3. breitere Bevölkerungsgruppen bzw. die gesamte Bevölkerung, die langfristig die Grundlage für die Auswahl und das Verhalten der politischen Eliten legen.

Die Änderung der Art, wie ein anderer Staat in diesen drei Gruppen (über den kulturellen Kontext)2 wahrgenommen wird, kann bedeutende Auswirkungen3 auf die Beziehungen zu diesem (und anderen) Staaten entfalten. Die Einflussnahme auf diese Gruppen, sowohl im eigenen, als auch in anderen Staaten, ist deshalb ein zentrales Instrument der Außenpolitik: In der aktuellen geopolitischen Situation, in der die „europäische“ (demokratische und liberale) Gemeinschaft offen in ihrer Existenz bedroht wird, kann sie sich den Luxus nicht leisten, darauf zu verzichten.4

Die Beeinflussung von politischen und medialen Eliten sowie der breiteren Bevölkerung im In- und Ausland über kulturelle Mittel ist ein wesentliches Instrument der Außenpolitik. In einem Kontext der existentiellen Gefährdung müssen europäische Demokratien es so effektiv wie möglich einzusetzen.

In der Folge möchte ich mich auf zumindest teilweise kooperative Verhältnisse beschränken, die zudem von einer tatsächlichen Vertiefung des kulturellen Verständnisses profitieren.5 Derartige Verhältnisse unterhalten europäische Staaten und die EU mit einem großen Teil der Welt, insbesondere in der unmittelbaren Nachbarschaft, die von herausragender strategischer Bedeutung ist.

Kulturpolitik im Ausland

Die Werkzeuge der internationalen Kulturpolitik, die bewusst auf die Beeinflussung außenpolitischer Verhältnisse abzielen, greifen auf drei wesentliche Mechanismen zurück, die jeweils auf eine oder mehrere der im letzten Abschnitt beschriebenen Gruppen zugeschnitten werden können:

  1. Aufbau einer Gruppe von Vermittlern, die eine Brückenfunktion auf beiden Seiten übernehmen können;
  2. Schaffung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, die einen nachhaltigen kulturellen Austausch ermöglichen.
  3. Ausbau der Sichtbarkeit der eigenen kulturellen Inhalte im Ausland;

Die Werkzeuge, die dafür eingesetzt werden können, sind äußerst vielfältig. Ich möchte mich in diesem Artikel weder auf primär diplomatische Kommunikation, auch wenn diese an die breitere Bevölkerung gerichtet ist,6 noch auf die Vermittlung wissentlich unwahrer, irreführender oder manipulativer Inhalte, selbst wenn diese sich primär auf Kultur beziehen,7 eingehen und stattdessen folgende Mittel der Auslandskulturpolitik im engeren Sinn nach ihren Hauptmerkmalen einteilen:

  • Förderung und Bewerbung von Sprach- und Kulturunterricht an Schulen, Universitäten und Sprachinstituten, sowohl im Inland (Fremdsprachen) als auch im Ausland (eigene Sprache) – Brücken, Sichtbarkeit
  • Unterstützung künstlerischer und wissenschaftlicher Mobilität im In- und Ausland (Stipendien, Künstlerresidenzen, internationale Konferenzen) – Brücken, Sichtbarkeit
  • Förderung bzw. Organisation künstlerischer Auftritte (Ausstellungen, Konzerte, Übersetzungen etc.) im Ausland, d.h. klassische „Kulturdiplomatie“ – Sichtbarkeit, Brücken
  • Unterstützung für exportorientierte Kulturproduktion im Inland – Sichtbarkeit, Wirtschaft
  • Unterstützung für kulturelle Koproduktionen von Akteuren im In- und Ausland – Wirtschaft, Sichtbarkeit
  • Tourismuswerbung und „nation branding“, insb. in kultureller Hinsicht – Wirtschaft, Sichtbarkeit, Brücken

Diese Aufzählung berücksichtigt multilaterale Kulturpolitik, die sich hauptsächlich im Rahmen der Vereinten Nationen, der UNESCO und des Europarats abspielt, nicht, weil diese mit anderen Formen der multilateralen Normensetzung (im Umweltrecht, Menschenrechten, dem humanitären Völkerrechts etc.) mehr gemein hat und wie diese nur mittelbar einen Einfluss auf das gegenseitige kulturelle Verständnis erwirkt.

Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, welche Bedeutung diese Aspekte im spezifischen Kontext europäischer Staaten, die im Bereich der Außenpolitik bereits eng kooperieren, einnehmen könnten.

Ein zentrales Instrument für die EU und ihre Mitgliedstaaten

Die EU verfügt nur über sehr beschränkte, koordinierende und unterstützende Kompetenzen im Bereich der Kulturpolitik,8 jedoch über durchaus weitreichende, wenn auch zumeist an Einstimmigkeit gebundene, Kompetenzen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. In diesem Abschnitt möchte ich skizzieren, wie Instrumente der Kulturpolitik im Ausland verwendet werden können, um zwei wesentliche Lücken in der Außenpolitik der der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu schließen. Die erste Lücke betrifft das Unverständnis, das langfristig zu einer Ablehnung der Interessen, Werte und Ansprüche der EU (Freiheit, Demokratie, Völkerrecht, etc.) führen kann, insbesondere in Ländern mit mehr oder weniger stark staatlich gesteuerten Medienlandschaften, gegen die klassische öffentliche Diplomatie (Pressekonferenzen, Interviews, Aussendungen) wenig ausrichten kann. Die zweite ist Eindruck der Schwäche, der sowohl konjunkturell mit militärischen und wirtschaftlichen Defiziten als auch strukturell mit der Schwierigkeit und Behäbigkeit einer Einigung der 27 Mitgliedstaaten zusammenhängt.

Der Herausforderung, in einem der EU und dem Westen gegenüber negativ eingestelltem Umfeld, u.a. aufgrund unfreier Medienlandschaften oder feindlicher Propaganda, zu kommunizieren, kann über geeignete kulturelle Inhalte und Austausch begegnet werden, die positiver konnotiert sind und weniger Misstrauen bzw. Ablehnung hervorrufen – für diesem Zweck ist der Aufbau von Brücken geeignet: Durch Stipendien, Konzerte, Konferenzen, Filmvorführungen, Literatur, aber auch Förderung von Tourismus oder Unterstützung kultureller Koproduktionen kann zunächst in verschiedenen Zielgruppen ein Grundverständnis für eine oder mehrere europäische Kulturen etabliert werden, das in Vertrauen münden kann. Durch die Verknüpfung kultureller Inhalte mit dem zumeist großen Interesse an wirtschaftlicher Entwicklung (z. B. mit Koproduktionen im Bereich kultureller und kreativer Industrien) steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Brückenkopf akzeptiert wird und sich nachhaltig etablieren kann. Über einen solchen Kanal können dann spezifische Botschaften übermittelt werden, wobei diese den kulturellen Inhalt nicht überlagern, sondern sich aus ihm als Begleiterscheinung eröffnen sollten. So kann ein erfolgreicher Film, in dem nebenbei ein gleichgeschlechtliches Paar dargestellt wird, vielfach mehr erreichen, als Aussendungen und Plakate über die Achtung der LGBTI-Rechte, die in zahlreichen Kontexten als (koloniale, dekadente) Einmischung werden wird.

Kunst und Kultur kann die gelebte Praxis der europäischen Werte vermitteln, was gerade in einem schwierigen Umfeld wesentlich effektiver ist, als theoretische Belehrungen.

Selbstbewusste und ambitionierte Kulturpolitik kann die EU auch dabei unterstützen, dem Eindruck der Schwäche entgegenzuwirken. Dafür eignen sich insbesondere9 anerkannte, hervorragende und nicht replizierbare Werke der Hoch- oder Massenkultur (Konzerte großer Symphonieorchester oder Popstars, Ausstellung weltbekannter Maler oder Bildhauer), Blockbuster im Serien- oder Filmbereich oder die Bewerbung beeindruckender technologischer und wissenschaftlicher Errungenschaften (Vorträge von Nobelpreisträgern, Ausstellungen über Weltraumprojekte etc.), die angepasst an den jeweiligen Kontext eine größtmögliche, positive Sichtbarkeit erreichen. Dadurch wird das immense europäische Potential für „soft power“ genutzt und zudem Interesse und Bewunderung für die Kultur geschaffen, wodurch langfristig wieder Brücken ausgebildet werden.10

Besonders exzellente, beeindruckende, in Erinnerung bleibende Kultur und Wissenschaftsprojekte spielen eine essentielle Rolle bei der Bekämpfung des Eindrucks der Schwäche der EU. Die europäische „soft power“ im Kulturbereich muss ständig ausgeübt und aktualisiert werden.

In diesem Kontext kann an die Spezifitäten der europäischen Nachbarschaft im Osten und Südosten der EU erinnert werden. In diesem für Europa geostrategischen Raum ist die Anziehungskraft für die „europäischen Kultur“ enorm, da die eigene Kultur in der Regel als europäisch gesehen wird.11 Die Sehnsucht einer „Rückkehr“ in das Zentrum der europäischen Kultur, einer Teilhabe an der europäischen „soft power“ ist immens und führt zu einer nochmals verstärkten Effektivität der europäischen Auslandskulturpolitik, solange dieses Bedürfnis tatsächlich anerkannt und erwidert wird – auch hier werden der Aufbau von Brücken (u.a. mit Fokus auf das gemeinsame kulturelle Erbe), wirtschaftlich nachhaltige Koproduktionen und die Präsentation hochqualitativer Inhalte (auch als Ausdruck der Wertschätzung) sinnvoll sein. Dadurch wird auch zur Attraktivierung der EU-Beitrittsperspektive beigetragen.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen die Bedeutung der internationalen Kulturpolitik als Pfeiler der Außenpolitik erkennen, Koordinierungsmechanismen (inkl. geographischer und thematischer Arbeitsteilung) einrichten, Budgets aufstocken und schließlich effektive und geographisch maßgeschneiderte Programme und Veranstaltungen umsetzen.

Welche Schritte können nun konkret gesetzt werden, um die Kulturpolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten im Ausland zu stärken? Zunächst gilt es, sich der Bedeutung der internationalen Kulturarbeit als höchst effektiver Pfeiler der Außenpolitik gewahr zu werden und zu erkennen, dass es in diesem Bereich die Interessen der Mitgliedstaaten einander sehr nahe sind. Anschließend sollten Mechanismen zur Koordinierung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten – sowohl in Brüssel als auch in den Zielstaaten – herausgebildet werden,12 idealerweise mit einer gewissen geographischen und thematischen Spezialisierung und Arbeitsteilung unter den Mitgliedstaaten. Im dritten Schritt sollten finanzielle Mittel (hauptsächlich auf Ebene der dafür zuständigen Mitgliedstaaten) für Auslandskulturpolitik aufgestockt und die möglichst effektive Koordinierung bei der Umsetzung der geeigneten Aktivitäten eingesetzt werden, insb. durch Austausch-, Sprach- und Stipendienprogramme, besonders sichtbare kulturelle Veranstaltungen sowie wirtschaftlich tragfähige Kooperationen. Der kulturelle Raum ist zu bedeutend, um ihn den Feinden und Gegenspielern eines freien Europas zu überlassen.

  1. Dazu zählen alle Personen, die eine breite Sichtbarkeit in größeren Gruppen entfalten, und diese zur Kommunikation des entsprechenden Inhalts nutzen (können). Das können neben Journalisten auch Forscherinnen, Sportler, Schritfsteller, Sängerinnen, Kirchenvertreter, Manager, Gewerkschafterinnen oder Influencer sein. ↩︎
  2. Dies ist nicht die einzige Möglichkeit für die Beeinflussung der Wahrnehmung. Gewisse Glaubenshaltungen, z. B. „Land X baut Truppen an der Grenze auf und wird uns angreifen“ sind nicht kultureller Natur. Dennoch werden auch sie in einem kulturellen Rahmen kontextualisiert, auf Plausibilität und Konsequenzen geprüft. ↩︎
  3. Dies ist auch der Fall, wenn diese Gruppen versuchen, internationale Beziehungen unabhängig von der Kultur, also rein „realistisch“ bzw. „interessensbezogen“ zu interpretieren. Das Verständis der Interessen und der Macht der anderen Akteure ist natürlich wandelbar. ↩︎
  4. Selbstverständlich ist auch dieses außenpolitische Instrument, wie alle anderen, im Einklang mit gewissen Grenzen und Regeln zu verwenden. Die unvermeidbare Spannung zwischen dem instrumentellen Ansatz der Kultur und dem Anspruch, der Kultur ihre Unabhängigkeit zu lassen lässt sich entschärfen, wenn man begreift, dass die Vielfalt der künstlerischen und wissenschaftlichen Produktion der instrumentellen Verwendung für die Sicherung der Werte die sie ermöglichen nicht entgegensteht – ganz im Gegenteil. ↩︎
  5. Dies ist nicht für alle kooperativen Verhältnisse der Fall – es ist gut möglich, dass bei einer Vertiefung des Wissens über den Anderen Seiten zum Vorschein kommen, die negativ wahrgenommen werden. Dies ist natürlich der Fall, wenn eine Kultur ursprünglich, ohne fundiertes Wissen, idealisiert wird, oder wenn im Detail zunehmende Divergenzen bei der Interpretation der Geschichte sichtbar werden. ↩︎
  6. Selbst wenn diese Botschaften selbstverständlich neben dem politischen Inhalt oftmals auch eine kulturelle Ebene beinhalten, etwa bei der Aussage: „Wir sind sehr besorgt über die Entwicklung der Menschenrechte in X und fordern die Freilassung von Schriftsteller Y.“ oder „Wir wünschen alles Gute zur Pride.“ ↩︎
  7. Diese kulturelle Propaganda (im engen, negativen Sinn), wie sie aktuell insbesondere von Russland praktiziert wird (vgl. Nadiia Koval, Denys Tereshchenko (Hg.): Russian Cultural Diplomacy under Putin, Stuttgart: 2023), ist von der unwissentlichen Vermittlung unwahrer Inhalte zu unterscheiden, die gerade im kulturellen Austausch unvermeidlich ist. ↩︎
  8. Siehe Artikel 6 des AEUV. ↩︎
  9. Kleinere Kulturprojekte, der Auftritt jüngerer Künstler etc. sind natürlich auch sinnvoll, erreichen jedoch ganz einfach nicht das Ziel der Projektion von Macht und Selbstbewusstsein. ↩︎
  10. Im Gegensatz zu den USA, deren „soft power“ auf einer sich großteils selbsterhaltenden militärischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturindustriellen Dominanz aufbauen können, muss die EU sich aktiv darum bemühen, ihre kulturelle Macht aufrechtzuerhalten und zu stärken. ↩︎
  11. Dies gilt, zumindest für große Teile der Bevölkerung und der kulturellen Eliten der EU-Beitrittskandidaten, inklusive in der Türkei und Georgien. ↩︎
  12. Erste Schritte in diese Richtung wurden bereits 2016 mit einer Gemeinsamen Erklärung für eine künftige Strategie für internationale Kulturbeziehungen gesetzt, die jedoch äußerst unfokussiert ist und eher eine Wunschliste als ein realistisches Programm darstellt. ↩︎