Kunst, Regeln und Handwerk

Kunst gehorcht zwar keinen Regeln, muss aber dennoch Regeln kennen und befolgen können. In dieser Hinsicht lässt sich eine Parallele zum Handwerk ziehen: Obwohl die Zielsetzungen von Handwerk und Kunst (als Idealtypen) unterschiedlich sind, greifen beide auf allgemeine und darüber hinausgehende individuelle Kunstfertigkeit zurück. Das Verhältnis von Handwerk und Kunst geht weiter – jede reale (nichtidealisierte) künstlerische Tätigkeit ist eine Mischung aus beiden Idealtypen.

  30. Jänner 2014    3' Lesezeit

Regeln

Welcher Mittel kann und soll sich die Kunst bedienen, um ihre Ziele – Kunst zu lehren und Kunst zu schaffen – zu verwirklichen? Zunächst scheint es so, als würde jedwede Einschränkung der künstlerischen Freiheit auch den Raum der ästhetischen Möglichkeiten einengen, und dass sie aus diesem Grund abgelehnt werden müsse.

Doch gerade darin, dass das Wesen der Kunst (in gewisser Weise der Wissenschaft ähnelnd) Lehre und „Forschung“ vereint, versteckt sich bereits eine gewichtige Einschränkung des absoluten künstlerischen Freiheitsideals. Diese manifestiert sich dadurch, dass das Schaffende, das Revolutionäre in der Kunst sich nur auf ein vorhandenes Gerüst stützten kann. Damit es etwas Neues gibt, muss es sich auf ein etabliertes Altes beziehen und davon abgrenzen.1 Es ist kein Zufall, dass es verschiedene Kunstgattungen, -strömungen, -schulen etc. gibt; vielmehr ist es konstitutives Element der Kunst.

Diese triviale Erkenntnis hat die Konsequenz, dass die Mittel, derer sich die Kunst bedienen kann, immer durch Regeln eingeschränkt werden. Diese Regeln sind nicht absolut (wie sie es zum Beispiel im wissenschaftlichen Bereich wären), weil sie prinzipiell alle übertreten und gewandelt werden können. Jedoch folgt ein solcher Regelbruch selbst Regeln zweiter Ordnung: Er muss bewusst geschehen, setzt also zumindest die Kenntnis der Regeln (erster Ordnung) voraus. Darüber hinaus muss ihm eine künstlerisch-ästhetische Intention zugrunde liegen, was dazu führt, dass Regelverletzungen die Ausnahme bleiben. Willkür oder Ungeschicklichkeit sind keine künstlerischen Tugenden.

Kunstfertigkeit und Handwerk

Regeln zu kennen und auch befolgen zu können sind demnach Voraussetzungen, um Kunst zu schaffen. Es gibt also so etwas wie Kunstfertigkeit. Dieser Begriff legt es nahe, das Verhältnis von Kunst und Handwerk etwas genauer zu beleuchten.

Als „Handwerk“ möchte ich die Tätigkeit bezeichnen, die individuell hergestellte Waren und Dienstleistungen hervorbringt. Damit gehen Spezialwissen und -fertigkeiten einher, sowohl solche die für das gesamte Handwerk konstitutiv sind als auch jene, die darüber hinaus gehen und nur einem einzelnen Handwerker zuzuordnen sind.2

Im Unterschied zur Kunst zielt Handwerk primär darauf ab, von außen vorgegebene Ziele zu verwirklichen, der selbstbestimmte ästhetische Aspekt kann sich dabei durchaus entfalten, aber nur sekundär, im Rahmen der jeweiligen Vorgabe.

Wiewohl ihre Ziele unterschiedlich sind, so sehr ähneln sich doch das künstlerische und das handwerkliche Handeln – beide sind verwandte Formen des Regel(nicht)folgens: In beiden Fällen gibt es Regeln, deren Kenntnis und potentielle Befolgung die einen Grundstock an Kunstfertigkeit erfordert, zugleich aber auch die Möglichkeit, darüber hinaus individuelle Kunstfertigkeit einzubringen und die Kunst oder das Handwerk weiterzuentwickeln.

Man könnte also zusammenfassen:

„Handwerk wird dann zur Kunst, wenn es sich selbst ästhetische Zwecke setzt.“

Natürlich sind „Kunst“ und „Handwerk“ wie ich versucht habe, sie begrifflich zu fassen, lediglich Idealtypen3 – keiner der beiden „existiert“ in Reinform. Jede künstlerische Tätigkeit ist einzigartig und mehr oder weniger externen, nicht-ästhetischen Zwecken geleitet. Dennoch kann eine grobe Klassifizierung versucht werden: Schauspiel oder Architektur sind zum Beispiel als Kunstgattung näher am Handwerk als Malerei und Schriftstellerei,4 was nicht bedeutet, dass ein bestimmter Schriftsteller nicht handwerklicher als eine bestimmte Schauspielerin arbeiten kann.

Künstlerische Tätigkeiten sind also in zweifacher Weise handwerklich – einerseits weil der Idealtypus der Kunst mit dem Idealtypus des Handwerks die Kunstfertigkeit als Grundlage teilt, andererseits weil es in Realität nur Hybride zwischen diesen beiden Realtypen gibt. Kunst geht in graduell in Kunsthandwerk (also Handwerk mit künstlerischem Anspruch) über.


  1. In der Hegel’schen dialektischen Terminologie wird das Bestehende im und vom Neuen „aufgehoben“

  2. Diese beiden Stufen finden sich auch in der Handwerkerausbildung – Gesellen erwerben das gemeinsame Fundament, Meister individuelle, darüber hinausgehende Zusatzfertigkeiten. 

  3. Für Heinrich Rickert und Max Weber ist ein Idealtypus ein vereinfachtes Konzept, dass in der Realität nicht exakt realisiert ist, aber die signifikanten Grenzen zur empirischen Beschreibung aufzuzeigen erlaubt. 

  4. Diese sehr krude Einteilung impliziert kein Werturteil – „reinere“ Kunst ist nicht gleichbedeutend mit „besserer“ Kunst.