Wirtschaftsliberalismus und Schuldenbremse – ein Paradoxon

Der Wirtschaftsliberalismus will die Rolle des Staats einschränken, weil ein möglichst freier Markt für ihn die beste Art darstellt, Wohlstand zu erzeugen – wenn der Staat agieren soll, dann möglichst wie ein Unternehmen. Deshalb unterstützt er auch der Wettbewerb zwischen Staaten. Die Forderung nach einer „Schuldenbremse“, die eine drastischen Einschränkung der unternehmerischen Freiheit des Staats in einem solchen „Markt der Staaten“ darstellt, steht dazu im Widerspruch.

  10. Februar 2014    4' Lesezeit

Die Grundprinzipien des Wirtschaftsliberalismus

Alle gegenwärtigen Formen des Wirtschaftsliberalismus1 beruhen auf folgenden vier Annahmen:

  1. Märkte allozieren Ressourcen am effizientesten.
  2. Effiziente Ressourcenallokation ist die Grundlage für Wohlstand.
  3. Dabei eventuell entstehende Ungleichheiten sind, im Vergleich zum allgemein Wohlstand, marginal.
  4. Der Staat kann danach trachten, Ungleichheiten auszugleichen.

Mit dem vierten Punkt wird zwar die Legitimität staatlicher Intervention in den Markt anerkannt, doch durch die dritte Annahme wird ihr Spielraum beschränkt. Insbesondere dürfen Interventionen immer nur eine Ausnahme bleiben, weil sonst Ressourcen nicht mehr effizient verteilt würden, was dem Wohlstand abträglich wäre. Weil Ungleichheiten, die durch den freien Markt entstehen, gering sind, sind auch staatliche Eingriffe nur unter starken Einschränkungen zu genehmigen.2

Aus dieser Argumentation ergibt sich das Motto „Weniger Staat, mehr Privat!“, zumindest solange die Einflussnahme des Staates als überproportioniert empfunden wird. Konkrete politische Maßnahmen, die sich aus diesem Prinzip ableiten lassen, sind unter anderem Privatisierungen oder der Abbau von Steuern und Regulierungen. Proponenten des Wirtschaftsliberalismus erwarten sich durch die größere Freiheit des Marktes verbesserte Wohlstandserzeugung, weil auf die Bedürfnisse der Marktteilnehmer schneller und präziser antworten kann.

Der Staat als Unternehmen

An diesem Punkt ist es wichtig, eine begriffliche Grenze zu ziehen. Was nämlich ist überhaupt der „Staat“, der sich möglichst aus allen Belangen heraushalten soll? Wenn er sich streng darauf beschränkt, Anteile an marktwirtschaftlich geführten Unternehmen zu halten,3 ist die Intervention dieser Unternehmen aus Sicht des Wirtschaftsliberalismus nicht einzuschränken, weil er dann ganz einfach ein Teil der effizientesten Ressourcenallokation ist. Es gilt also, dass nur derjenige staatliche Anteil, der sich nicht marktwirtschaftlichen Prinzipien unterwirft, in seinen Interventionen am Markt einzuschränken ist. Das Ideal des Staates im Wirtschaftsliberalismus ist aber eben, dass der Staat sich (so weit wie möglich) als Unternehmen versteht und marktwirtschaftlich geführt wird.

Vor einigen Tagen ist in Österreich diesbezüglich eine interessante Debatte aufgekommen: Sollen die Bundesländer eigene Steuern eintreiben können?4 Dahinter steckt die Frage nach dem Wettbewerb zwischen Bundesländern, der von den Wirtschaftsliberalen als äußerst positiv (unter anderem mit Blick auf die Schweiz) dargestellt wird.5

Das Gemeinwesen soll wie ein Unternehmen geführt werden, um Steuereinkommen mit innovativen Mitteln kämpfen – das beste Modell wird sich in diesem Wettbewerb bewähren. Diese Ansicht ist durchaus problematisch,6 aber zumindest konsistent. Ressourcen werden am besten durch den freien Markt zugeteilt, deshalb soll auch der Staat als Marktteilnehmer agieren.

Staatsdefizit als rotes Tuch

Ein anderes wichtiges Element des wirtschaftsliberalen Diskurses betrifft das Ungleichgewicht zwischen Staatsausgaben und -einnahmen, also das Budgetdefizit. Für Proponenten des Liberalismus soll ein solches möglichst verhindert werden, wenn nötig mit drastischen rechtlichen Mitteln, wie der Verankerung einer „Schuldenbremse“ im Verfassungsrang.

Ich möchte betonen, dass diese Einstellung von den anderen Prinzipien des Wirtschaftsliberalismus logisch unabhängig ist. Es ist durchaus möglich, dass ein „schlanker“, unternehmerisch geführter Staat – der sich nur in Ausnahmefällen von marktwirtschaftlichen Prinzipien entfernt, wenig Steuern einnimmt, wenig ausgibt und wenig reguliert – dennoch hohe Schulden macht. Die Forderung nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt ist ad-hoc, sie lässt nicht auf den Kern des Wirtschaftsliberalismus (also der Überzeugung, dass der Markt die optimale Ressourcenallokation erlaubt) zurückführen.

Ein Paradoxon

Ich möchte nun zeigen, dass der Ruf nach einer „Schuldenbremse“ nicht nur von den Grundprinzipien des Wirtschaftsliberalismus unabhängig ist, sondern ihnen in gewisser Hinsicht sogar widerspricht. Für den Markt, in den der Staat „von außen“ eingreift, mag es oft so sein, dass ein hohes Budgetdefizit mit hohen Ausgaben einhergeht und mit höheren Steuern geschlossen zu werden trachtet. Dadurch wird der Eingriff in den Markt verstärkt, was aus Sicht des Wirtschaftsliberalismus nicht wünschenswert ist.

Wird aber der Markt betrachtet, in dem der Staat als Teilnehmer (also „von innen“) agiert, muss sich die Beurteilung radikal ändern. Unternehmen verfolgen oft expansive Strategien, die nur durch substanzielle Verschuldung ermöglicht werden.7 Warum sollte der Markt der Staaten auf konservative Strategien eingeschränkt werden und (unter Umständen höchst innovative) schuldenbasierte Ansätze unterbinden? Diese Art von Einschränkung der Marktfreiheit steht demnach in fundamentalem Widerspruch zu den Prinzipien des Wirtschaftsliberalismus, wenn sie auf den Markt der Staaten angewandt werden.8

Fazit

Laissez-faire ist ein zweischneidiges Prinzip. Einerseits soll der Staat den von ihm verwalteten Markt frei von Steuern und Regulierungen halten; zugleich soll er selbst dann auch frei von Einschränkungen auf seinem Markt gehalten werden. Alles andere widerspräche der Überlegenheit des Marktes zur optimalen Verteilung von Ressourcen:

Die „Schuldenbremse“ ist ein Beispiel wirtschaftlichen Konservatismus', nicht Liberalismus'.


  1. Anlass für diesen Artikel war die Auseinandersetzung mit den Positionen der Die Weis[s]e Wirtschaft, die meines Erachtens den modernen österreichischen Wirtschaftsliberalismus recht gut verkörpern. 

  2. Natürlich ist die genaue Grenzziehung nicht für alle wirtschaftsliberale Strömungen dieselbe, die argumentative Struktur jedoch schon. 

  3. In vielen rohstoffreichen Ländern ist das der Fall. Ein erfolgreiches Beispiel ist Norwegen, dessen riesige staatliche Pensionsfonds weltweit Anteile an Unternehmen hält. 

  4. ÖVP-Landeshauptleute wollen eigene Steuern (Die Presse); Verländerung der Steuer statt der Lehrer? (Wiener Zeitung) 

  5. Siehe zum Beispiel Pro Ländersteuern: Reflexartiger Shitstorm (Der Standard), oder auch Vor Wettbewerb muss man sich nicht fürchten (Die Presse)

  6. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, wieviel Kapital akkumuliert werden muss, um sich sinnvoll am „Markt der Staaten“ beweisen zu können. Da gewisse Eintrittshürden bestehen, kann argumentiert werden, dass kleine staatliche Gebilde (wie Bundesländer oder kleine Länder) eher im Nachteil sind, wenn sie untereinander konkurrieren, weil sie nicht genug Kapital für den Wettbewerb mit großen Staaten besitzen. 

  7. Fast alle Startups folgen zunächst diesem Schema. Twitter war zum Beispiel noch nie profitabel: Twitter share price tumbles further after news of slowing growth (The Guardian)

  8. Man könnte das Argument durchaus weiter führen – wenn es einen Markt der Staaten gibt, dann muss dieser Markt sich auf die gesamte wirtschaftspolitische Ebene durchdringen. Wenn man die Freiheit dieses Markts ernst nimmt, ist jede Art der Einschränkung von Wirtschafts- und Steuerpolitik aus Sicht des Wirtschaftsliberalismus abzulehnen. Auch (z.B.) Kommunismus sollte demnach ein Teilnehmer am „freien“ Markt der Staaten sein dürfen. Um den Kommunismus auszuschließen, bedürfte es zusätzlicher politisch-philosophischer Prinzipien (wie der Setzung des Eigentumsrechts als Grundrecht) – ironischerweise beschränken solcherart Prinzipien immer zugleich die Freiheit des Markts. Ein allumfassender, freier Markt ist (selbst als Idealtypus) ein komplett bedeutungsloses Konzept.