„Brüssel“ – ein externer Monolith?

Die Kritik der Europäischen Kommission an Österreichs Flüchtlingspolitik wurde – auch von der „Qualitätspresse“ – zum Match „Österreich vs. EU“ stilisiert. Die fehlgeleitete Wahrnehmung der EU als externer, omnipotenter Monolith wird dadurch verschärft.

  1. März 2016    3' Lesezeit

Die letzten Wochen waren für Österreichs Europapolitik recht turbulent. Nach dem abrupten Kurswechsel der Regierung in Richtung „Obergrenze“ für Flüchtlinge sorgte die Durchsetzung dieses Beschlusses für Wortgefechte mit europäischen Institutionen und anderen Ländern. Die medial zur mittleren Tragödie stilisierte Kritik an Österreich von Teilen der EU-Kommission zeigt die Unzulänglichkeiten der EU-Berichterstattung der österreichischen Medienlandschaft wieder besonders deutlich auf.

Das Problem ist nicht nur, dass „die EU“ oder „Brüssel“ als Oberbegriff für alle Organisationen und Personen, die auf EU-Ebene agieren, verwendet wird, wodurch das institutionelle Gefüge der EU ausblendet wird. Erschwerend kommt hinzu, dass die – in diesem Fall inexistenten – Konsequenzen des „EU-Briefs“ (und dessen rechtlicher Status) komplett verschleiert werden.

Von der Boulevard- und Subboulevardpresse ist nicht mehr zu erwarten; an die österreichische „Qualitätspresse“ würde man derartige Ansprüche noch gerne richten. Leider konnte man nach der Kritik des EU-Migrationskommissars Avramopoulos in der Presse lesen „EU: Österreich bricht mit Obergrenzen Recht“; im Standard gar „EU zerlegt Österreichs Obergrenze“.1

Es wird der Eindruck vermittelt, die Obergrenze sei vom Europäischen Gerichtshof zurückgewiesen worden.

Unbedarfte (Schlagzeilen)Leser (diese sind, was EU-Politik betrifft, deutlich in der Mehrheit) bekommen den Eindruck, es handle sich um einen Österreich unmittelbar betreffenden Beschluss, und nicht um den absolut unverbindlichen Standpunkt eines „EU-Regierungsmitglieds“. Auch wer mit der institutionellen Struktur der EU vertraut ist, würde zunächst vermuten, es handle sich um eine rechtlich bindende Entscheidung – die Obergrenze sei vom Europäischen Gerichtshof zurückgewiesen oder zumindest ein Verfahren für Vertragsverletzung von der Kommission eingeleitet worden. Jedoch trifft auch das nicht zu.2

Eine derartige Vereinfachung und Verzerrung ist keinesfalls durch die notwendige Prägnanz zu rechtfertigen. Die einfache Schlagzeile: „EU-Kommissar hält Obergrenze für illegal“ hätte die Sache korrekt auf den Punkt gebracht. Es ist auch unwahrscheinlich, dass sie auf die Ignoranz der jeweiligen EU-Korrespondenten zurückzuführen sei. Vielmehr scheint es sich um eine bewusst in Kauf genommene mediale Zuspitzung zu handeln. Der implizierte Schlagabtausch „Österreich vs. EU“ (die Presse hier wohl aufseiten Österreichs, der Standard aufseiten der EU) bringt sicherlich mehr Klicks und Werbeeinnahmen als „EU-Kommissar mit österreichischer Regierung unzufrieden“.

Die EU wird als externer Monolith unbegrenzter Macht dargestellt, der den Nationalstaaten gegenüber steht. Daraus ergibt sich das falsche Dilemma „Österreich oder EU?“.

Die perversen Folgen dieser EU-Berichterstattung sind nicht zu unterschätzen. Sie kultiviert das Bild eines einheitlichen, externen Akteurs mit scheinbar unbegrenzter Macht, der den Nationalstaaten gegenüber steht. Unterstützer der Obergrenze werden einen externen Angriff aus „Brüssel“ vernehmen, dem das kleine Österreich möglichst „standhaft“ gegenüberstehen soll – wenn nötig mit dem EU-Austritt. Kritiker der Obergrenze werden den – ebenso unbegründeten – Eindruck bekommen, dass nur ein äußerer Eingriff die liberale Rechtsstaatlichkeit Österreichs noch garantieren kann.

In der Realität ist die EU – sie war es schon zum Zeitpunkt des Beitritts 1995 – eine (komplexe) zusätzliche politische Ebene wie es schon Bund, Länder und Gemeinden in Österreich sind. Die Innenpolitik ist mit der EU-Politik ebenso verzahnt wie die Landespolitik mit der Bundespolitik; die nationale Rechtsprechung nicht mehr gesondert von der EU-Judikatur zu verstehen.

Genauso wie es auf Bundesebene möglich und üblich ist, Standpunkte einzelnen Politikern (und nicht bloß „Wien“) zuzuordnen, sollte es deshalb auch auf EU-Ebene selbstverständlich sein, einzelnen Akteuren beizupflichten und zu kritisieren.

Ganz gleich welchen Standpunkt das österreichische Volk zur EU einnehmen möchte – bedingungslose Zufriedenheit, konstruktive Kritik oder grundlegende Ablehnung – er sollte nicht Ausdruck bloßen Unwissens sein.

Durch die Einhaltung grundlegender Qualitätsstandards – in dem das institutionelle Gefüge der EU nicht als mysteriöser Hegemon karikiert wird – können Medien diese Auseinandersetzung unterstützen. Ganz gleich welchen Standpunkt das österreichische Volk zur EU-Mitgliedschaft einnehmen möchte – bedingungslose Zufriedenheit, konstruktive Kritik und grundlegende Ablehnung sind alle vertretbar – er sollte nicht Ausdruck bloßen Unwissens sein. Das viel zitierte Demokratiedefizit der EU wird sonst nur unnötig verschärft.

  1. Vgl. Der Standard, 19.02.2016, S. 4. ↩︎
  2. Der erste Schritt eines solchen Verfahrens, das „Aufforderungsschreiben“ wurde zum Beispiel gegen Deutschland wegen des Mindestlohns im Verkehrssektor eingeleitet. Er wird auch offiziell verlautbart. ↩︎