Über Sinn und Unsinn des Korporatismus

Nach dem demokratischen Grundprinzip genießen alle Bürger und Bürgerinnen dieselben politischen Rechte. Die besonderen Rechte von Interessensvertretungen im politischen Prozess verletzen dieses Prinzip, können aber in bestimmten Fällen gerechtfertigt werden, insbesondere wenn sie besondere Expertise einbringen oder Probleme effizienter lösen können. Im Bildungsbereich werden diese Bedingungen meines Erachtens nicht erfüllt.

  21. Mai 2017    4' Lesezeit

Das demokratische Grundprinzip

„Demokratie“ ist ein unendlich vielschichtiger und vieldeutiger Begriff, sowohl in seiner deskriptiven („Was ist Demokratie?“) als auch in seiner normativen Ausprägung („Was soll Demokratie sein?“). Auf einige problematische Aspekte bin ich bereits in früheren Beiträgen eingegangen.

Für diesen Artikel, der die grundlegende Spannung zwischen dem Bestehen von Interessensvertretungen und einem demokratischen System aufzeigen soll, wird jedoch ein sehr allgemeiner und abstrakter Demokratiebegriff ausreichen. Der Grundgedanke ist, dass für alle Mitglieder des Volks gleiche politische Rechte innehaben:

Demokratie ist das System, in dem jedem Bürger, jeder Bürgerin dieselben Rechte zur politischen Gestaltung der politischen Gemeinschaft zuteil werden.

Das allgemeine, aktive und passive Wahlrecht, die freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit sind konkrete Ausformungen dieses Prinzips. Ausnahmen davon bedürfen einer soliden Begründung und sind besonders restriktiv auszulegen.

Interessensvertretungen und Korporatismus

Interessensvertretungen vertreten Gruppen mit spezifischen Interessen innerhalb der Gesellschaft. Ich möchte nur auf Interessensvertretungen im engen Sinn eingehen, auf diejenigen, die gesetzlich verankert sind, denen über die bloße Meinungsbildung hinaus eine spezifische Einflussnahme im politische Prozess ermöglicht wird.1

In dieser Definition wird auch schon die Spannung zwischen dem Bestehen von Interessensvertretungen und dem demokratischen Grundprinzip deutlich: Mitgliedern der betroffenen Gruppe genießen eine privilegierte politische Gestaltungsrolle. Sie können auf den politischen Prozess nicht nur über ihre allgemeinen politischen Rechte, sondern auch über ihre Interessensvertretung Einfluss nehmen. Diese „korporatistische“ Komponente zergliedert die Gesellschaft in Gruppen mit unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten.

Bürger, die in einer oder mehreren gesetzlich anerkannten Interessensvertretung repräsentiert sind, haben andere politische Rechte als diejenigen, die es nicht sind.

Trotz dieser Spannung gibt es in vielen Demokratien gesetzlich verankerte Rollen für unterschiedliche Interessensverbände. Österreich ist ein Extrembeispiel: Arbeiter-, Landwirtschafts-, Wirtschaftskammer, ÖGB, Ärzte-, Notariats- und Rechtanwaltskammer, ÖH, Eltern- und Schülervertretungen, und viele mehr genießen eine gesetzlich privilegierte, gesetzlich gesicherte Rolle im politischen Prozess.

Wie ist dieser Bruch mit dem demokratischen Prinzip zu rechtfertigen? Die Voraussetzung ist zunächst, dass die Gruppe einheitliche Interessen hat, die darüber hinaus besonders berücksichtigt werden sollten.

Darüber hinaus scheint es mir drei Faktoren zu geben, die eine korporatistische Einflussnahme legitimieren können:

  1. Expertise der Interessensvertretungen. Dieser Faktor ist insbesondere bei den Vertretungen von Ärzten, Rechtsanwälten und Notaren offensichtlich, aber er spielt auch in der Sozialpartnerschaft eine wichtige Rolle.
  2. Effizienz in der Problemlösung und Konfliktvermeidung, die mit traditionellen demokratischen Methoden nicht zu erreichen wäre. Das ist die wohl sinnvollste Begründung für das Bestehen der Sozialpartnerschaft.2
  3. Eingeschränkte Auswirkungen auf Nicht-Mitglieder. Idealerweise haben die Entscheidungen, die korporatistisch beeinflusst werden, keine nennenswerten Auswirkungen auf den Rest der Gesellschaft. Bei Lohnverhandlungen für eine bestimmte Branche ist diese Bedingung zumindest näherungsweise erfüllt.

Die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern erfüllt meines Erachtens noch am ehesten diese Kriterien. Dennoch mangelt auch sie an der Kohärenz der Interessen: Scheinselbstständige, Kleinstunternehmen und Großkonzerne haben selten dieselben Aspirationen. Eine darauf abzielende Reform der Sozialpartnerschaft wäre also angebracht, um die Legitimität und damit auch die Effizienz des Vorgangs zu stärken.

Bildungspolitik als Beispiel

Ich komme nun zum Bildungsbereich, der meines Erachtens ein gutes Beispiel für fehlgeleiten Korporatismus darstellt. Zwei Interessensverbände sind im Bereich der Schulpolitik auf Bundesebene gesetzlich verankert: die Lehrervertretung und die Schülervertretung.3 Beide äußern sich, wie auch die Elternvertretung (die einen etwas anderen rechtlichen Status hat, faktisch aber dasselbe Mitspracherecht beansprucht) derzeit lautstark zur vorgeschlagenen Reform der Schulautonomie.

Das erste und grundlegende Problem ist, dass alle drei Gruppen äußerst inhomogen sind. Ihre gemeinsamen Anliegen beschränken sich einerseits auf praktische Fragen auf Schulebene (Anbindung an den öffentlichen Verkehr, der Stundenplan, die Neugestaltung der Schulfassade, usw.) und andererseits auf budgetäre Fragen (Anzahl und Gehalt der Lehrkräfte, Budget für Instandhaltung, usw.), wo Lehrer, Schüler und Eltern tendenziell gemeinsam gegenüber der Regierung für mehr Ressourcen plädieren.4

Jedoch gibt es bezüglich der Organisation und inhaltlichen Ausrichtung der Bildungspolitik innerhalb jeder Gruppe starke ideologische Spaltungen, die mehr oder weniger die „traditionelle“ Parteienlandschaft abbilden. In diesen Fragen verlieren die Interessensvertretungen ihre Kohärenz und ihre Legitimität nach außen. Der derzeitge Bundesschulsprecher ist etwa ein Mitglied der offensichtlich ÖVP-nahen Schülerunion, und spricht sich auch dementsprechend gegen die Einführung der Gesamtschule aus. Es fällt beim besten Willen schwer, darin ein konkretes gemeinsames Interesse der derzeitigen Schüler zu erkennen.

Diese Inhomogenität führt natürlich auch dazu, dass die drei Interessensvertretungen dem politischen Prozess, zumindest bei grundlegenden Bildungsreformen, nicht zu mehr Effizienz verhelfen, sondern im Gegenteil als zusätzliche Trägheitsfaktoren wirken. Das ideologische Parteienspiel im Nationalrat wird im Wesentlichen um drei – amateurhaftere – Kopien erweitert.

Dazu kommt erschwerend hinzu, dass Fragen der Bildungspolitik die gesamte Gesellschaft betreffen, wie wohl kaum ein anderes Thema. Auch Nicht-Schüler, Nicht-Lehrer, Nicht-Väter und Nicht-Mütter sind von der Schulpolitik im höchsten Ausmaß betroffen, weil sie die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Zukunft ganz wesentlich mitbestimmt. Die privilegierte Stellung von bestimmten Gruppen, die Abkehr vom demokratischen Prinzip, ist in solchen grundlegenden Fragen nicht zu rechtfertigen.

Es ist deshalb widersinning, wenn das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur in einer 2009 herausgegebenen Broschüre Wissenswertes für SchülervertreterInnen pathetisch behauptet:

„Wir brauchen an den Schulen SchülervertreterInnen, die die Interessen der SchülerInnen nach außen tragen. Nur so ist eine aktive Mitgestaltung im Sinne der Demokratie möglich.“ (Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, 2009)

Es gibt eben keine einheitlichen Interessen, die nach außen getragen werden könnten; „im Sinne der Demokratie“ sind die Präferenzen anderer Bürger genauso zu berücksichtigen wie jene der Schüler. Zusammenfassend ist Korporatismus in der Bildungspolitik ist weder legitim noch effizient. Die Abkehr vom allgemeinen demokratischen Prinzip ist in diesem Bereich demnach nicht sinnvoll.

  1. Politische Parteien, die auch unter diese Definition fallen würden, möchte ich hier ausklammern, weil sie eine sehr spezifische Rolle der Unterstützung des allgemeinen demokratischen Prozesses spielen sollen. Es sei trotzdem erwähnt, dass auch das Bestehen von politischen Parteien nicht so offensichtlich mit dem demokratischen Prinzip zu vereinen ist, wie es gemeinhin impliziert wird.
  2. Emerich Tálos, 2006, Sozialpartnerschaft: Austrokorporatismus am Ende?
  3. Siehe das Schulunterrichtsgesetz und das Schülervertretungsgesetz.
  4. In diesen Themenbereichen genießen meines Erachtens die Lehrer- und Elternvertretungen mehr Legitimität als die Schülervertretung, die ob ihres Mangels an Erfahrung – und tendenziell auch an Reife – kaum relevante Expertise vorweisen können wird.