Vermischte Bemerkungen zur Coronavirus-Pandemie

Zwei Monate, nachdem die COVID-19-Pandemie Europa erreicht hat, ist noch immer überhaupt nicht klar, wie die Welt in den nächsten Monaten und Jahren aussehen wird. Einige Bemerkungen zu unterschiedlichen Aspekten der Krise lassen sich aber bereits formulieren.

  3. Mai 2020    6' Lesezeit

Mut zur wissenschaftlichen Lücke

Bei bislang unerforschten und bedrohlichen Herausforderungen reicht die – grundsätzlich sinnvolle – enge Fokus­sierung auf „Evidenzbasiertes“ nicht aus. Es liegt in der Natur der Sache, dass etwa noch keine Daten zu Ausgangs­beschränkungen oder zur Effektivität von Masken vorliegen – das bedeutet jedoch keinesfalls, dass sie nicht effektiv sind. Bei solch eingeschränktem Wissen gebietet das Vorsorgeprinzip, auch Hypothesen in Betracht zu ziehen die nicht durch sorgfältige Studien untermauert sind und Maßnahmen zu treffen, von denen Experten vermuten, dass sie angemessen sind, solange sie keinen Schaden anrichten.

Dieser Paradigmenwechsel, der Mut zur wissenschaftlichen Lücke, war für viele wissenschaftliche Institutionen überraschend schwierig – das Robert-Koch-Institut hat ihn etwa erst Anfang April vollzogen.

Bei experimentellen Therapien ist die Situation ähnlich – mit einem wichtigen Unterschied. Auch klinische Studien müssen viel rascher als sonst und bei einer vermuteten Wirksamkeit durchgeführt werden; die möglichen negativen Neben­wirkungen führen jedoch dazu, dass ihre Wirksamkeit und Gefahrlosigkeit erst belegt werden sollte, bevor sie breit verschrieben werden können.

Diese Anpassung der Handlungsstandards darf jedoch keinesfalls zu einer weiteren Senkung der Wissenschaftsstandards werden, die lediglich Scharlatenen aller Art („Wissenschafts­skeptikern“) in die Hände spielen würde. Leider sind die Anreize dafür derzeit besonders stark: Es war niemals so einfach wie jetzt, mit einem Preprint mit reißerischen Titel und geschickter Medienaussendung zu hunderten Zitierungen zu kommen und so seine Karriere abzusichern. Auch angeblich „renommierte Forschungsruppen“ greifen unverfroren zu dieser Trickkiste: Ein skandalöses Beispiel unter vielen ist eine Studie, welche die Feinstaubkonzentration in den USA mit der Mortalität korreliert, und dabei vorgaukelt, das genaue Ausmaß der angeblich daraus folgenden Kausalität ausrechnen zu können – wobei nicht einmal die Bevölkerungs­dichte, die Altersstruktur oder der Zeitpunkt des Ausbruchs herausgerechnet werden!1 Der Erfolg von derartigem wissenschaftlichen Müll, der in vielen Feldern ohnehin schon weit verbreitet ist wird die ethischen Grundsätze junger Forscher wohl hart auf die Probe stellen.

Schätzungen zur Infektionssterblichkeit

Mittlerweile können sinnvolle Schätzungen zur Infektionssterblichkeit, also zur Anzahl der an COVID-19 verstorbenen gemessen an allen Infizierten (inkl. nicht getesteten) ausgerechnet werden.

Die Analyse der Über­sterblichkeit in besonders hart getroffenen Gebieten kann liefern dabei eine belastbare untere Schranke. Die Daten aus der Provinz Bergamo weisen etwa auf eine Infektionssterblichkeit hin, die kaum unter 0,4% liegen kann.2 Auch andere Ansätze führen zu ähnlichen Werten.

Das bedeutet, dass COVID-19 eine ca. zehn Mal höhere Infektionssterblichkeit aufweist als Grippeepidemien nach 1920. Bei einer vollständigen Ausbreitung ohne Medikament oder Impfung würde dies für Europa ca. 1,5-2 Millionen Menschen COVID-19-Tote bedeuten, in Österreich etwa 30.000.3

Die „unausweichliche“ Herdenimmunität

Vielfach entsteht in den Medien der Eindruck, dass die einzigen zwei Optionen, um der Pandemie Herr zu werden (neben einer Impfung, die tatsächlich in den nächsten Monaten nicht verfügbar sein kann) Herdenimmunität oder Eindämmung durch „totalen Lockdown“ ist. Da zweiteres längerfristig wirtschaftlich nicht tragbar sei, bliebe nur erstere Möglichkeit, mit leicht unterschiedlichen Wegen zu diesem Ziel.

Diese Dichotomie ist aus mehreren Gründen eine falsche. Erstens könnten in der Zwischenzeit Medi­kamente oder Therapie­ansätze gefunden werden, welche die Sterblichkeit drastisch senken.4 Zweitens gibt es unzählige Länder, die nachhaltige Maßnahmen alternativ zu bzw. nach drastischen Ausgangssperren umgesetzt haben und dennoch näher an der Ausrottung als an der Herden­immunität liegen, u.a. Südkorea, Hongkong, Japan, Singapur, Taiwan, Vietnam, Thailand. Diese sind international stark vernetzt und waren relativ früh betroffen, haben also grundsätzlich5 nicht bessere Voraussetzungen als jene in Europa.6

Länder wie diese, die das Virus eindämmen konnten und können, werden sich vermutlich rascher der Normalität nähern – auch bezüglich des Reiseverkehrs untereinander – als jene, in denen das Virus lange weit verbreitet ist. Sie können durchaus als Vorbilder für eine Art dritten Weg dienen, der neben einer reduzierten Ansteckungsaktivität durch Vorsichtsmaßnahmen auch auf eine rasche Identifikation und Eliminierung von neuen Ansteckungsketten setzt.

Reduktion der indirekten Übersterblichkeit

Oftmals wird argumentiert, dass die Über­sterblichkeit großteils nicht durch COVID-19, sondern durch Ausgangssperren und Einschränkungen im Gesundheitsbetrieb verursacht werde, also indirekt, etwa durch Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Es wird lange keine soliden Daten zu dieser Hypothese geben, aber sie ist sehr ernst zu nehmen.

Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Mehrbelastung durch COVID-19 in jedem Fall zu einer gewissen indirekten Übersterblichkeit führt – die Frage ist nur, welche Herangehensweise diese minimiert. Die Strategie der „kontrollierten Durchseuchung“, die über eine maximale Auslastung der intensivmedizinischen Kapazitäten durch COVID-19-Patienten führt, um rasch zur Herden­immunität zu gelangen, minimiert diese Übersterblichkeit nicht, ganz im Gegenteil. Je mehr Spitalskapazitäten durch COVID-19 belegt werden, umso weniger Platz und Zeit bleibt für andere Untersuchungen und Behandlungen, umso größer ist auch die Angst, ins Spital zu kommen. Dahingegen versucht etwa eine Eindämmungs­strategie, möglichst wenig Kapazitäten durch COVID-19 zu binden, wodurch die Versorgung für alle anderen Patienten weitgehend aufrecht erhalten werden soll.

Es ist also zu erwarten, dass Ausgangs­sperren im Rahmen einer Eindämmungs­strategie zu einer geringeren indirekten Übersterblichkeit führen als eine möglichst rasche kontrollierte Durchseuchung.7

Vergebliche Transparenz

Auch im politischen Bereich lassen sich einige interessante Beobachtungen anstellen. Die bedeutendste ist meines Erachtens, dass eine offene und konsistente politische Entscheidungsfindung von der Öffentlichkeit kaum gewürdigt wird, ja manchmal sogar kontraproduktiv ist.

In Österreich (wie auch in vielen anderen Ländern) wurde das Risiko durch COVID-19 bis Mitte März trotz eindeutiger Erfahrungsberichte aus China8 und Daten aus Japan und Südkorea massiv unterschätzt,9 die politische Haltung zu Schul­schließungen, Ausgangs­beschränkungen und Masken wurden von einem Tag auf den nächsten diametral geändert und über Wochen wurden permanent Verbote kommuniziert, die rechtlich nicht existierten.

Bis heute gibt es in Österreich trotz bereits erfolgter Lockerungen keine Strategie zur Eindämmung, es bleibt ungewiss, wieviele Neuinfektionen akzeptabel sind, wo und wie nun getestet und isoliert werden soll. Seit Februar gibt es auch keine Protokolle des Beraterstabs der „Taskforce“ mehr, die Mitglieder müssen sich zur Verschwiegenheit verpflichten. Doch ungeachtet aller institutionalisierten Intransparenz und Inkonsistenz genießt die Regierung rekordverdächtige Beliebtheits­werte und wird in den Medien hoch gelobt. Eine resolute, einheitliche und flächendeckende Kommunikation ist in Krisenfällen offenbar wichtiger als ihre Inhalte; auch der Skandal Ischgl ist mittlerweile kaum mehr ein Thema. Natürlich spielt dabei auch die im Vergleich zu Italien oder der Schweiz geringe Zahl der in Österreich Verstorbenen eine Rolle.

Die grundsätzlich recht ähnlichen Maßnahmen und Widersprüche in Frankreich wurden hingegen aufgrund der allgemeinen Skepsis gegenüber der Regierung und der weit höheren Todeszahlen als Planlosigkeit gewertet. Das politische Kapital, das von offenen, unabhängigen Empfehlungen des wissenschaftlichen Beirats geschlagen werden sollte, wurde dadurch zunichte gemacht, dass sich die Regierung nicht an alle Empfehlungen hält.

  1. Das Zitat aus dem Artikel selbst – Wissenschaftsjournalisten können hier nicht als Sündeböcke herhalten – ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten: „We found that an increase of only \(1 \mu \text{g/m}^3~\) in PM2.5 is associated with a 15% increase in the COVID-19 death rate, 95% confidence interval (CI) (5%, 25%). Results are statistically significant and robust to secondary and sensitivity analyses.“ Es gibt noch weitere schwerwiegende Probleme mit dieser und ähnlichen Studien, auf die ich hier nicht eingehen möchte.
  2. Bei einer Über­sterblichkeit von ca. 4.000 Personen bei einer Million Einwohnern (0,4%) bis Ende April. Geht man vorsichtig davon aus, dass davon nur die Hälfte davon direkt an COVID-19 verstorben ist, sowie dass die Herdenimmunität trotz der Eindämmungsmaßnahmen fast erreicht ist, also ca. 50% der Bevölkerung infiziert wurden, schätzt man die Infektionssterblichkeit auf 0,4%. Weil die Sterblichkeit aufgrund der vielen schweren Fälle mit der Zeit steigt und der Anteil der COVID-19-Toten an der Übersterblichkeit sehr konservativ geschätzt wird, ist dies eine untere Grenze, für eine demographisch relativ alte, aber doch für Europa recht repräsentative Bevölkerung. Das Gesundheitssystem in der Lombardei wurde zwar äußerst stark beansprucht, ist aber nicht ganz zusammengebrochen. Eine obere Grenze liefert hingegen das Kreuzfahrtschiff Diamond Princess, mit seiner deutlich älteren demographischen Struktur. Fast alle Personen wurden getestet wurden und bis heute sind 14 von 712, d.h. ca. 1,9% der Infizierten an COVID-19 verstorben.
  3. Es ist zu beachten, dass die Infektion nicht sofort bei Erreichen der Herdenimmunität (schätzungsweise 60-70%) aufhören würde, sich zu verbreiten, sondern sich ab diesem Zeitpunkt nur die aktiven Fälle verringern; schlussendlich infizieren sich ca. 90% der Bevölkerung.
  4. Derzeit sieht es noch nicht danach aus, aber größere klinische Versuche laufen erst an.
  5. Bis auf gewisse kulturelle Eigenheiten, die für die Zeit der Pandemie nachgeahmt werden können.
  6. Grundsätzlich ist natürlich der Vergleich zwischen Ländern sehr schwierig. Neben sozialen, kulturellen, demographischen und klimatischen Unterschieden ist insbesondere der Zeitpunkt der Einschleppung ein bedeutender Faktor, der nicht ausreichend gewürdigt wird. Regionen in Europa, in die das Virus später eingeführt wurde (wie offenbar in Ost- und Südost- aber auch in Nordeuropa) haben grundsätzlich einen immensen Startvorteil, weil ihre Maßnahmen relativ zur Ausbreitung früher getroffen werden können. Dass drastische Maßnahmen in Italien zu höheren Todeszahlen als limitierte Maßnahmen in Schweden führen, bedeutet etwa nicht, dass drastische Maßnahmen nicht grundsätzlich effektiver sind.
  7. Es gibt natürlich gewisse Todesursachen, wie Suizid, Alkoholvergiftungen oder häusliche Gewalt, die bei einer Strategie der Eindämmung überproportional steigen könnten. Diese müssen natürlich bekämpft werden, sie spielen jedoch statistisch keine große Rolle und werden wohl wenig Einfluss auf die Übersterblichkeit haben.
  8. Bei aller berechtigter Kritik an der anfänglichen Vertuschung und vermutlich falschen Zahlen aus China – die veröffentlichten Daten zur Fallsterblichkeit, zur Verbreitung und zu Symptomen und Risikogruppen waren ab Anfang Februar absolut ausreichend, um die Gefährlichkeit der Infektion und die Notwendigkeit der Vorbereitung von Schutzmaßnahmen zu erkennen. Eine Einschätzung der ECDC vom 31. Jänner fasste diese relevanten Daten auch für Entscheidungsträger zusammen und erkannte richtigerweise als größtes Risiko die verspätete Identifikation von eingeschleppten Fällen.
  9. „Von Reisen nach Italien riet Anschober nicht prinzipiell ab, ins unmittelbare Krisenregionen sollte man jetzt aber nicht fahren. Primär gehe es aber um Eingrenzung von Verdachtsfällen aber nicht Begrenzung des Reisens. In Österreich sind bereits vielerorts Atemschutzmasken ausverkauft. Diese seien aber nicht erforderlich. ‘Ich rate nicht, dass wir alle zu Atemschutzmasken greifen’ sagte Anschober.“ Die Presse, 27.2.2020