Nicht nur Buchhaltung – Staatsverschuldung abseits des Idealfalls

Budgetdefizite und Staatsschulden in eigener Fiatwährung sind grundsätzlich keine relevanten makroökonomische Größen und auch nicht mit Privatverschuldung vergleichbar. Wie die Modern Monetary Theory richtigerweise feststellt, kann sich das Budgetdefizit grundsätzlich nach der Absorptionskapazität der Volkswirtschaft richten. Doch bei offenen Volkswirtschaften oder Währungsunionen müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden, die den budgetären Spielraum zum Teil drastisch einschränken. Exemplarisch gehe ich auf die Spezialfälle von Entwicklungsländern, Währungsunionen und die Sonderrolle der USA ein.

  14. Dezember 2022    5' Lesezeit

In einem ausführlichen, letztes Jahr veröffentlichten Artikel habe ich einige grundlegende Zusammenhänge zwischen Schulden- und Geldpolitik erläutert und dabei unter anderem argumentiert, dass Staatsdefizit und Staatsverschuldung im Gegensatz zu Inflation, Wachstum, Arbeitslosigkeit etc. eine buchhalterische, nicht unmittelbar relevante makroökonomische Kenngrößen sind.

In diesem kurzen Beitrag möchte ich auf Einschränkungen dieses Modells eingehen, die bei der Analyse der Situation offener Volkswirtschaften eine wichtige Rolle spielen. Wenn internationale Investitionen, Handel und Wechselkurse ins Spiel kommen, zeigt sich, dass der der budgetäre Handlungsspielraum Grenzen unterworfen ist, die von der Modern Monetary Theory (MMT) – die nur auf die Absorptionsfähigkeit der eigenen Volkswirtschaft eingeht – übersehen werden. In diesem Artikel möchte ich auf drei paradigmatische Fälle eingehen: Entwicklungsländer, Währungsunionen und die USA als Ausgeber der unausweichlichen Leitwährung.

Entwicklungsländer und die Notwendigkeit von Fremdkrediten

Das Budgetdefizit in eigener Fiatwährung wird nur durch makroökonomische Faktoren wie Inflation, Arbeitslosigkeit oder Zinssatz wirklich beschränkt, nicht etwa durch das Verhältnis zum BIP. Für Staaten mit großen freien Produktionskapazitäten bedeutet dies, dass ein im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung hohes Defizit nachhaltig sein kann, für andere hingegen – und vor allem für Entwicklungsstaaten – kann es sein, dass bereits bei einer relativ niedrigen Neuverschuldung die produktiven Grenzen der Volkswirtschaft erreicht werden und die Inflation stark ansteigt. In diesem Fall muss sich der Staat bei größeren Investitions- und Entwicklungsprojekten in Fremdwährung verschulden, um einer massiven Inflation – bzw. Abwertung der eigenen Währung – zu entgehen.

Diese Grenze ist eine, die in der MMT übersehen wird, weil diese einzig die formale Möglichkeit, sich in eigener Fiatwährung zu verschulden,1 betrachtet und ignoriert, dass die reine Verschuldung in Eigenwährung für zahlreiche Staaten ohne international angesehene Leitwährung eine Einschränkung der Handlungsmöglichkeit darstellt, gegenüber welcher eine Verschuldung in Fremdwährung neue, riskantere, aber volkswirtschaftlich durchaus vorteilhafte Optionen eröffnet.

Die MMT übersieht in ihrer Betrachtung von Staatsschulden, dass für zahlreiche Staaten Verschuldung in Fiatwährung (im Rahmen der „natürlichen“ Grenzen der Volkswirtschaft) unzureichend ist und Verschuldung in Fremdwährung den Spielraum für notwendige Investitionen schaffen kann.

Verschuldung in Fremdwährung unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von Verschuldung in der eigenen Währung: Sie entspricht im Wesentlichen einer Privatverschuldung mit zusätzlichem Wechselkursrisiko. Die einmaligen Gestaltungsmöglichkeiten, die für Entwicklungsländer durch Fremdwährungskredite eröffnet werden – u.a. Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Produktivität – werden mit einer tatsächlichen Einschränkung des Gestaltungsspielraums zukünftiger Generationen erkauft.2 Damit müssen mit Fremdschulden bediente Projekte wie privatwirtschaftliche Projekte bewertet und behandelt werden; sie sollten einem Rentabilitätszwang unterliegen. Eine Fehleinschätzung kann im schlimmsten Fall einen Staatsbankrott nach sich ziehen.

Schulden in Fremdwährung ähneln Privatschulden mit Wechselkursrisiko. Sie öffnen die Tür zu ansonsten unmöglichen Investitionen, unterliegen aber – wie Privatinvestitionen – einem Rentabilitätszwang und -risiko.

Währungsunionen als Hybridformat

Währungsunionen, wie sie etwa einige EU-Mitgliedsstaaten, aber auch west- und südafrikanische Staaten gebildet haben, können unter Umständen einen Raum bilden, der über genügend Kapazitäten verfügt, um sich rein in Eigenwährung zu verschulden, d.h. keine Finanzierung in Fremdwährung benötigt. In diesem Fall fällt das Wechselkursrisiko für alle Staaten weg, es bleibt jedoch grundsätzlich die Möglichkeit eines Schuldenausfalls, auch wenn dieses (siehe unten) oft theoretischer Natur ist.

Aufgrund des Ausfallrisikos kritisieren Vertreter der MMT den Beitritt zu einer Währungsunion als künstliche Einschränkung des budgetären Freiraums, der bei einer der Verschuldung in Eigenwährung besteht. Sie übersehen aber, dass vergleichbare Staaten außerhalb einer Währungsunion eine größere Variabilität des eigenen Wechselkurses inkauf nehmen oder sich überhaupt (siehe voriger Abschnitt) in Fremdwährung verschulden müssten, was den fiskalpolitischen Spielraum ebenfalls massiv einschränkt.3

Währungsunionen erlauben es ihren Mitgliedern, sich auf eine Art und Weise zu verschulden, welche im Gegenzug zu Einbußen bei der formalen monetären Unabhängigkeit das Wechselkursrisiko gegenüber Fremdwährungskrediten minimiert.

Darüber hinaus kann in politisch integrierten Währungsunionen wie dem Euroraum durch interne Mechanismen dem nominellen Verlust an Souveränität weiter entgegengewirkt werden, etwa durch gemeinsame Budgetinstrumente oder geteilte Schuldenaufnahme.4 Zusätzlich kann davon ausgegangen werden, dass die EZB jedes Land der Währungsunion letztlich vor dem Bankrott bewahren würde, wodurch das Hauptrisiko des Staatsbankrotts de facto ausgeschlossen ist.

Deshalb bedarf es aber auch gemeinsamer Budgetregeln, da ansonsten die Möglichkeit bestünde, dass ein Land durch exzessives Defizit die Währung gegen andere ausnutzt und den negativen Nebeneffekt – die Inflation – auf den gesamten Raum verteilt. Das derzeitige Regelwerk, insbesondere der Stabilitäts- und Wachstumspakt sollten diese Funktion erfüllen, es baut aber auf willkürlichen Maßstäben wie dem Verhältnis von Defizit und Schulden zum BIP auf. Es bräuchte rasch andere Mechanismen, um einen ökonomisch sinnvollen und gerechten einzelstaatlichen Spielraum für Fiskal- und Geldpolitik zu ermöglichen. Denkbar wäre etwa, dass jährlich ein Kontingent von „Freischulden“ vereinbart wird, das sich auf gesamteuropäische makroökonomische Daten stützt und dann nach einem bestimmten Schlüssel (der sich nach BIP und Bevölkerungsanzahl richten kann) einzelnen Staaten zugeteilt wird.

Im spezifischen Fall des Euro ist über die gemeinsame Zentralbank das Risiko des Zahlungsausfalls für Mitgliedsstaten sehr gering. Ein politischer Mechanismus zur Teilhabe an der gemeinsamen Geldschöpfung ist notwendig, aber derzeit irrational und sollte überarbeitet werden.

Die USA als Spezialfall

Abschließend möchte ich zum Spezialfall der Vereinigten Staaten kommen, der von der MMT als geld- und budgetpolitischer Idealfall dargestellt wird, aber in der Realität eine weltweite Ausnahme darstellt, auch gegenüber großen Industrienationen mit eigener Währung (Vereinigtes Königreich, Japan) und der EU als Währungsunion. Der US-Dollar hat weltweit eine einzigartige Stellung als Reserve- und Transaktionswährung,5 die auf das Vertrauen in die Verfügbarkeit und technologische und militärische Vormachtstellung der USA zurückzuführen sind.

Durch dieses weiterhin bestehende „privilège exorbitant“ sind die USA in der Lage, bei ihrer Schuldenpolitik nicht nur auf die makroökonomische Aufnahmekapazität des eigenen Landes, sondern der gesamten Welt zurückzugreifen. Damit kann etwa die Inflation auf die gesamte Welt verteilt werden,6 um Investitionen in den USA zu ermöglichen; umgekehrt, wie etwa beim Marshall-Plan, der großteils auf budgetpolitische Impulse der USA zurückgeht, kann umgekehrt auch eine Investition im Ausland durch Überkapazitäten im Inland aufgefangen werden.

Das „privilège exorbitant“ der Vereinigten Staaten besteht darin, die indirekten Auswirkungen ihrer Fiskal- und Geldpolitik über den ganzen Globus verteilen zu können. Dadurch profitieren die USA von der Möglichkeit hoher Budgetdefizite (und entsprechenden Inlandsinvestitionen) mit vergleisweise geringer Inflation.

Die MMT macht also den entscheidenden Fehler, die absolut außergewöhnliche Situation der USA, dessen Fiatwährung zugleich auch die weltweite Leitwährung ist, als Blaupause für die Fiskal- und Geldpolitik anderer Staaten zu betrachten.

Abschließend sei daran erinnert, dass auch die Zinspolitik der Fed, globale Auswirkungen hat und die Hochzphase der 1980er Jahre zwar die Stabilisierung der Inflation in den USA erreichte, aber auch einen budgetären und wirtschaftlichen Zusammenbruch zahlreicher in Dollar verschuldeter (bzw. im Handel auf Dollar angewiesener) Drittstaaten. Ähnliche Schwierigkeiten könnten in der bevorstehenden (relativen) Hochzinsphase wieder entstehen. Die USA wären gut beraten, ein Mindestmaß an Koordinierung mit anderen Akteuren zu suchen, um größere internationale Verwerfungen zu vermeiden – mit dem Privileg geht auch die Verantwortung einher, die Bedürfnisse des Rests der Welt zu berücksichtigen.7

  1. Und hebt den Gegensatz zu Währungsunionen, auf die ich weiter unten eingehe, hervor, vgl. Stephanie Kelton, The Deficit Myth (2020). ↩︎
  2. Dadurch, dass ein Staatsbankrott und/oder ein Kollaps des Werts der eigenen Währung möglich wird. ↩︎
  3. Das Vereinigte Königreich ist ein gutes Beispiel für die realen Einschränkungen der Schuldenpolitik eines Lands mit einer formal komplett unabhängigen Währung, welches sich auch gänzlich in Eigenwährung verschulden kann. Doch es waren die Sorgen über die Auswirkungen einer expansiven Budgetpolitik auf den Wechselkurs des Pfunds, welche (unter anderen Schwierigkeiten) Premierministerin Truss zu Fall brachten, nicht die Gefahr eines Zahlungsausfalls. ↩︎
  4. Wie sie von der EU im Rahmen des Europäischen Aufbauplans nach der COVID-Pandemie erstmals praktiziert wurde. ↩︎
  5. Obwohl es mitunter leichte Rückgänge gibt, macht der Dollar noch immer 60% der weltweiten Währungsreserven aus, sämtliche Rohstoffe werden in Dollar gehandelt. ↩︎
  6. Dasselbe gilt prinzipiell – wenngleich in weit geringerem Ausmaß – für alle Reservewährungen, insbesondere den Euro, der auch eine gewisse internationale Relevanz hat. China wird in Zukunft wohl ebenfalls von einem ähnlichen, zumindest regionalen Privileg profitieren. ↩︎
  7. Alle Währungen sind mehr oder weniger stark aneinander gekoppelt. Währungsunionen stellen eine maximale Kopplung von Staaten dar, ebenso ein fixes Wechselkursregime. Der Dollar als weltweite Leitwährung ist an alle anderen Währungen ebenfalls stark gekoppelt und begründet eine Art weltweite Protowährungsunion, mit ähnlichen, aber schwächeren Effekten als jenen, die in einer Währungsunion auftreten. Aus diesem Grund ist die Forderung nach einem globalen Koordinierungsmechanismus für die US-Geldpolitik legitim. ↩︎