Kompromisse im säkularen Staat

Auch wenn ein säkularer Staat ein erstrebenswertes Ideal darstellt, kann er nicht gänzlich konsistent und konfliktfrei sein. Um den Eindruck von Säkularität zu wahren und der objektiven und subjektiven Gefährdung durch fundamentalistische Gruppen zu begegnen sind pragmatische Abwägungen notwendig.

  12. November 2017    6' Lesezeit

Ich möchte in diesem Beitrag das gerne verwendete Schlagwort „Säkularität“ etwas genauer untersuchen. Dabei werde ich anhand aktueller Beispiele zwei Dilemmata beschreiben, die in einem säkularen Staat auftreten können.

Zunächst gilt es zu kären, was ein „säkularer Staat“ überhaupt ist. Es ist ein Staat, der unabhängig von Religion im Speziellen und Weltanschauung im Allgemeinen funktioniert.1 Weshalb ist diese Funktionsweise sinnvoll? Die meines Erachtens einfachste Erklärung ist, dass er mit religiöser Vielfalt und Veränderung besser zurechtkommt als ein Staat, der eine bestimmte Religion bevorzugt. Säkularität verbessert die Flexibilität und Widerstandsfähigkeit gegenüber weltanschaulichen Umwälzungen.2

Unabhängigkeit von Religion

Es sind zumindest vier Ebenen relevant, um einen säkularen Staat zu beschreiben. Ein Staat ist nach (nicht immer geschriebenen) Regeln organisiert. Diese Regeln sollen durch Staatsbedienstete umgesetzt werden. In manchen Fällen kommen diese mit anderen Außenstehenden in Kontakt. Schließlich gilt es, die Säkularität als besonders schützenswertes Grundprinzip des Staates zu behandeln.

Auf der Ebene der Regeln ist Säkularität einfach zu konzipieren. Ihr Inhalt soll ohne Bezug auf religiöse Texte, Praktiken und Gruppierungen verständlich und umsetzbar sein. Die österreichischen Religionsgesetze, die gewissen religiösen Gruppierungen besondere Rechte und Pflichten einräumen, entsprechen offensichtlich nicht dieser Anforderung. Österreich ist deshalb schon auf dieser ersten Ebene kein vollkommen säkularer Staat.

Die säkulare Umsetzung der Regeln ist auch recht leicht zu fassen. Idealerweise setzt jeder einzelne Bediensteter des Staates – unabhängig seines eigenen religiösen Glaubens oder seiner eigenen Weltanschauung – die Regeln auf dieselbe Art um. Das heißt nicht, dass alle Lehrer, Polizistinnen oder Staatsanwälte ein und dieselbe Weltanschauung teilen müssen. Sie darf bloß bei der Ausführung ihrer Funktion keine Rolle spielen: Staatsangestellte müssen in einem säkularen Staat bereit sein, ihre Religion oder Weltanschauung dem säkularen Regelwerk unterzuordnen.

Ein Staat wirkt auch nach außen: Staatsbedienstete kommen mit der breiten Bevölkerung – schriftlich, telefonisch, persönlich – in Kontakt. Auch diese Interaktion ist für die Säkularität eines Staats essentiell, genaue Kriterien dafür sind jedoch schwierig auszumachen. Eine Bedingung ist jedenfalls, dass die Bürger die bereits erwähnte Säkularität der Regeln und der Staatsdiener als solche anerkennen. Wird hingegen auch nur der Eindruck erweckt, dass gewisse Religionsgruppen bevorzugt oder benachteiligt werden, wird die Säkularität des Staats untergraben. Säkularität erfüllt den eingangs skizzierten Zweck – einen friktionsfreien Umgang der Gesellschaft mit Religion zu garantieren – nur wenn auch die Inszenierung der Säkularität funktioniert.

Wenn schließlich Säkularität ein fundamentaler Wert des Staates sein soll, der eine gewisse Stabilität genießt und nur schwer abzuschaffen ist, sollte er durch gewisse Mechanismen geschützt werden. Die offensichtlichste ist die Aufnahme der Grundregel der Säkularität in den Verfassungsrang, wodurch sie nur mit überragender Mehrheit abgeschaft werden kann.3 Doch auch, was die Umsetzung der Regeln betrifft, muss sichergestellt werden, dass es zu keiner einfachen Unterwanderung der Säkularität, auch durch Einflüsse aus der Gesellschaft, kommen kann. Es braucht also gewisse Metaregeln als Schutzmechanismen für Säkularität.

Diese vier Aspekte erlauben es, zwei grundlegende Spannungen im säkularen Staat darzustellen, die den gegenwärtigen politischen Diskurs prägen und denen nur durch Abwägungen beigekommen werden kann.

Religiöse Symbole im öffentlichen Dienst

Die erste Schwierigkeit hängt mit der Beziehung von Säkularität und Wahrnehmung der Gesellschaft zusammen. Ein gutes Beispiel dafür ist das vorgeschlagene Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, das insbesondere den Lehrberuf treffen würde. Offensichtlich nehmen große Teile der Bevölkerung dieses Symbol als Ausdruck einer religiösen Einstellung wahr, die nicht mit der im staatlichen Dienst erforderlichen Unterordnung unter die säkularen Regeln kompatibel ist. Diese Wahrnehmung unterminiert also den säkularen Staat, selbst wenn die meisten (im Extremfall sogar alle!) Kopftuchtragenden in der Ausübung einer staatlichen Funktion eigentlich vollkommen neutral agieren.

Es gibt zwei Arten, diesem Problem zu begegnen. Man könnte das Kopftuch4 im öffentlichen Dienst verbieten, damit der Eindruck (auch wenn er teilweise ungerechtfertigt ist) bei den Bürgern erst gar nicht entstehen kann. Andererseits könnte man auch probieren, das Empfinden der Bevölkerung zu ändern, etwa durch Kampagnen, welche die Vereinbarkeit des Kopftuchtragens und der neutralen Befolgung säkularer Regeln betonen.

Keine der beiden Lösungen ist ideal. Das Kopftuchverbot ist ein Eingriff in die individuelle Freiheit der Bediensteten aus kollektiven Gründen. Sie kann überdies dazu führen, dass der Eindruck der Diskriminierung einer Religionsgruppe, also wieder der Nicht-Säkularität, entsteht. Aber auch der Versuch, die Bevölkerung in ihrer bestehenden Wahrnehmung des Kopftuchs zu belehren, führt an die Grenze zur Propaganda oder kann zumindest als solche aufgefasst werden.5 Beide Strategien können also zu einer weiteren Unterminierung des Vertrauens in den Staat und dessen Säkularität führen.6

Es hat demnach immer eine Abwägung stattzufinden, die sowohl den legitimen Freiheiten der Angestellten als auch den legitimen Erwartungen der Bürger Rechnung trägt.

Fundamentalistische religiöse Praktiken

Die zweite Schwierigkeit hängt mit den bereits erwähnten Verteidigungsmechanismen zum Schutz von Säkularität vor Untergrabung und Abschaffung von außen zusammen. Die entsprechenden Metaregeln können mit dem Erfordernis der Säkularität in Konflikt kommen, das sie eigentlich schützen sollen. Dass diese Möglichkeit nicht rein hypothetischer Natur ist, zeigt die Problematik um das „Burkaverbot“,7 das seit 1. Oktober 2017 zur Anwendung kommt und an das französische Gesetz von 2010 angelehnt ist.

Das Gesetz verbietet jede Art der Gesichtsverhüllung, ist damit auch formal ein säkulares Gesetz; dennoch zielt es offensichtlich auf fundamentalistische Glaubensausübung in der Form von Vollverschleierung ab:

„Ziele […] sind die Förderung von Integration durch die Stärkung der Teilhabe an der Gesellschaft und die Sicherung des friedlichen Zusammenlebens in Österreich […]“ (§ 1 Anti-Verhüllungsgesetz)

Mit dem „friedlichen Zusammenleben“ ist natürlich das Zusammenlegen Personen unterschiedlichen Glaubens impliziert, das durch Vollverschleierung in der Öffentlichkeit untergraben werde. Tatsächlich ist Vollverschleierung als Ausdruck von Religiosität – im Gegensatz zu den allermeisten religiösen Symbolen (Kippa, Sikh-Turbane, usw.) – mit grundlegenden zwischenmenschlichen Gepflogenheiten in Österreich kaum in Einklang zu bringen.

Durch das Tragen von Niqab, Burka und ähnliche Kleidungsstücken entsteht zunächst eine objektive, direkte Selbstausgrenzung zwischen vollverschleierter Person und dem Rest der Gesellschaft. In gewissen Fällen soll dadurch auch das Primat des eigenen Glaubens über andere gesellschaftliche Regeln (also fundamentalistischer Islamismus) verkündet werden – eine schwer zu übersehende Provokation für den säkularen Staat. Die zweite, subjektive und indirekte Ausgrenzung ist noch schwerwiegender: Vollverschleierte Personen lassen den Eindruck entstehen, dass eine bestimmte Glaubensrichtung eine Parallelgesellschaft mit radikal anderen Umgangsformen aufbaut. Diese Wahrnehmung schwappt unweigerlich (und oft ungerechtfertigt) über den eigentlichen Kreis8 der Fundamentalisten auf die breitere Gruppe der Muslime über. Die resultierenden religiösen Spannungen greifen früher oder später auch auf die Gesetzgebung und -umsetzung über und stellen mittelfristig eine Gefahr für die Säkularität des Staates dar.

Das „Burkaverbot“ kann9 also als Anlassgesetzgebung zum mittelbaren Schutz der Säkularität gegen fundamentalistische Religionsausübung in der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden. Zugleich ist das gewählte Mittel jedoch zumindest eine mittelbare Diskriminierung einer radikalen Glaubensrichtung, die meint, sich nur durch Verschleierung ausleben zu können: Niqabträgerinnen werden anders behandelt, als Menschen, die ihren (eventuell genauso radikalen) Glauben unterschiedlich ausdrücken.

Die Säkularität soll langfristig beschützt werden, wird aber dadurch unmittelbar untergraben.

Auch in diesem Fall gibt es keine einfache Lösung im Sinn des säkularen Ideals – Argumente für und wider „Burkaverbot“ sind gleichermaßen logisch stringent. Eine minimale Einschränkung der Religionsfreiheit, die nur besonders extreme religiöse Strömungen betrifft, scheint mir angemessen, wenn sie auch wirklich das konfliktfreie Zusammenleben der überwältigenden Mehrheit der Gläubigen fördert. Auf diesem schmalen Grat wird sich das Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz in der Praxis bewähren müssen.

  1. Diese Definition ist sehr allgemein und umfasst verschiedene Ausprägungen von Säkularität; eine weitere Präzisierung scheint mir jedoch nicht notwendig.
  2. Diese Erklärung bedürfte weiterer Ausführungen, die jedoch wenig mit dem Thema dieses Artikels zu tun haben.
  3. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass bestimmte Werte in einer Demokratie vollständig abgesichert werden können, auch wenn etwa das deutsche Grundgesetz mit seiner „Ewigkeitsklausel“ diesem Ideal recht nahe kommt.
  4. Und, um dem Prinzip der Säkularität genüge zu tun, natürlich auch alle anderen offensichtliche religiösen und weltanschaulichen Symbole.
  5. Es ist nicht zu übersehen, dass die FPÖ in Österreich ganz maßgeblich daran arbeitet und davon profitiert, dass ein großer Teil der Bevölkerung den Eindruck hat, dass der Staat bislang Probleme mit dem Islam „totschweigt“.
  6. Die langfristig einzige Lösung wäre entweder das Verschwinden des Kopftuchs in der Gesellschaft (weil sich Formen des Islam durchsetzen, die es nicht fordern) oder eine derartige Banalisierung und Desideologisierung des Kopftuchs, dass es keine religiöse Botschaft mehr vermittelt.
  7. Eigentlich: „Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz“.
  8. Es ist hierbei kaum relevant, wie viele Vollverschleierte tatsächlich in der Öffentlichkeit auftreten.
  9. Was selbstverständlich nicht bedeutet, dass diese Überlegung bei der Entstehung des Gesetzes tatsächlich die vorrangige war.